Die eine Nacht der Herrlichkeit
Geschichten zur Weihnacht
Käthe Recheis, Marius Huszar
ISBN: 978-3-85252-388-0
21 x 15 cm, 64 Seiten, m. Abb., Hardcover
€ 13,00 €
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Kurzbeschreibung
[Hrsg. von Käthe Recheis u. Marius Huszar]
RAINER MARIA RILKE
ADVENT
Es treibt der Wind im Winterwalde
Die Flockenherde wie ein Hirt,
Und manche Tanne ahnt, wie balde
Sie fromm und lichterheilig wird,
Und lauscht hinaus. Den weißen Wegen
Streckt sie die Zweige hin, bereit,
Und wehrt dem Wind und wächst entgegen
Der einen Nacht der Herrlichkeit.
FRIEDL HOFBAUER
DIE LICHTER VON BETHLEHEM
»Gehst du mir den Truthahn holen?« fragte die Oma den Opa. »Ich hab ihn schon vorige Woche bestellt. Aber nimm dir den Einkaufswagen mit, er hat mindestens 6 Kilo. Das müßte reichen.« »Weiß ich nicht«, sagte der Opa. »Aber 6 Kilo trag ich noch leicht!« »Nein«, sagte die Oma. »Denk an deinen Blutdruck. Du nimmst den Einkaufswagen. Und geh bitte gleich, ich muß ihn heute noch vorbraten. So ein Vieh braucht lange. Und morgen am späten Vormittag kommt die Mia mit der Lisa und bringt den Truthahn und uns hinaus!« »Streß dich nicht«, sagte der Opa. »Heute ist schließlich Heiliger Abend. Auch wenn wir heuer keinen Christbaum haben.« »Weiß ich«, sagte die Oma. »Das Nachtmahl ist schon fertig.« »Und wann ist dein Truthahn fertig?« fragte der Opa und knöpfte sich den Mantel zu. »Es ist nicht mein Truthahn«, antwortete die Oma. »Entschuldige«, sagte der Opa. »Soll ich sonst noch was mitbringen?« »Nein! Ja, doch, Zündhölzer. Wir haben schon wieder keine. Und ich zünde die Adventkranzkerzen nicht gern mit einer Gasflamme an. Das ist so unfeierlich! Und geh bitte endlich. Der Truthahn muß morgen am späten Vormittag fertig sein, wie du weißt, da holt uns die Mia mit der Lisa ab.« »Streß dich nicht«, sagte der Opa nochmals, nahm den Einkaufswagen und ging den Truthahn und Zündhölzer holen.
Die Oma deckte den Tisch für sich und den Opa, zupfte den Adventkranz, der schon ein bißchen dürr war, zurecht und dachte darüber nach, was noch zu tun war für das morgige Festessen im Familienkreis. Sie saß da und freute sich auf den stillen Heiligen Abend mit dem Opa und überlegte, ob sie nicht doch irgendwas zu tun vergessen hatte. Da läutete es an der Tür und draußen standen ihre Tochter Mia und das Enkelkind Lisa. Lisa trug eine kleine, leuchtende Laterne. »Ja was bringt ihr denn da?« fragte die Oma. »Glaubt ihr vielleicht wir haben keine Zündhölzer?« »Das ist wurscht«, sagte Lisa und hob das Laternchen hoch. »Das ist das Licht von Bethlehem. Wir haben eins gebracht, damit du auch eins hast.« »Was? Wie bitte?« fragte die Oma. »Kommt doch herein!«
»Es ist echt aus Bethlehem«, sagte Lisa. »Im Auto haben wir noch sechs Stück davon. Die müssen wir heute noch austragen. Das Licht von Bethlehem gibts auf allen Bahnhöfen, und ich glaub auch auf den Postämtern. Dort kann sich jeder eins holen.« »Mir scheint, ich hab sowas Ähnliches im Fernsehn gesehen«, sagte die Oma. »Da fliegt doch jedes Jahr ein Kind aus Österreich nach Bethlehem in die Geburtskapelle und bringt das Licht mit. Habt ihr das extra für mich auf dem Westbahnhof geholt?« »Nicht extra«, sagte Lisa. »Wir haben noch sechs Stück unten im Auto. Die bringen wir lieben Leuten. Ist doch ein schönes Weihnachtsgeschenk, was? Mama, wir müssen wieder weg, sonst wirds zu spät und sie zünden ihren Christbaum an, bevor sie das Licht von Bethlehem haben.« »Das wäre an sich auch kein Unglück«, sagte die Oma. »Die Hauptsache ist doch, daß man die Weihnachtskerzen ein bißchen nachdenklich und mit Liebe anzündet. Aber es ist schön, einmal so ein Weihnachtslicht zu haben. Ich danke euch von ganzem Herzen!« »Nix zu danken, gern geschehen!« sagte Lisa. »Also, wir sehen uns ohnehin morgen«, sagte Tochter Mia. »Wir holen euch so gegen elf ab. Dann wird der Truthahn doch schon fertig sein, oder?« »Jaja« antwortete die Oma. »Komm, Lisa«, sagte ihre Mutter. »Wir können die Lichter nicht so lang im Auto allein lassen, sonst regt sich am Ende noch jemand drüber auf. Sie könnten ja wirklich umfallen.« »Sowas tut das Licht von Bethlehem nicht«, sagte Lisa, aber sie hatte es plötzlich doch ganz eilig, obwohl die Lichter in hohen Glasgefäßen windgeschützt in einer offenen Schachtel im Auto standen.
Als sie hinunterkamen, brannten und leuchteten die sechs noch auszutragenden Laternen wie sie sie verlassen hatten, still und friedlich vor sich hin. Draußen eilten Leute vorbei, mit Geschenkpaketen, Säckchen und Tannenbäumen, und merkten gar nicht, was da leuchtete. Mia schaute plötzlich nach der Windschutzscheibe, aber da war kein Strafzettel. Sie setzte sich aufatmend ans Steuer und sagte zu Lisa: »Nimmst du die Lichter bitte wieder auf den Schoß?« Lisa nahm die Schachtel mit den brennenden Lichtern auf den Schoß und sagte: »Aber fahr vorsichtig! Besonders um die Kurven!«