Wilhelm Meissel
Österr. Schriftsteller, Verlagslektor u. Bibliothekar, 1922–2012
Gelernter Schriftsetzer. Bibliothekar bei den Wiener Städtischen Büchereien. Ab 1966 nebenberuflich als Verleger tätig (Belvedere Verlag). Redakteur und Mitherausgeber der Wiener Bücherbriefe, Programmgestalter der Wiener Festwochen im Rahmen der Städtischen Büchereien. Ab 1982 Schulerhalter und Erbauer einer Primary School in Kenia.
Topograph der Seelenlandschaften: Wilhelm Meissel als Kinder- und Jugendbuchautor
Meine Eltern hatten mir zu Weihnachten – ich war zehn oder elf Jahre alt – ein spannendes Buch geschenkt – Titel: Der Waggon auf Gleis 7. Schon Haimo Lauths Illustration auf dem Schutzumschlag erzeugte ein wohliges Gruseln und machte mich gespannt auf die Geschichte: Zwei Buben spähen aus dem Fenster eines Eisenbahnwaggons und beobachten eine finstere Gestalt, die aus einem anderen Waggon eine Kiste fortträgt. Wilhelm Meissel berichtet in seiner 1966 in erster Auflage erschienenen Kriminalerzählung von ungeheuerlichen Geschehnissen: Medikamentendiebstahl, Mordversuch, Entführung. Das mochte selbst dem Verlag Jugend und Volk als recht „starker Tobak“ erscheinen, und so findet sich im Klappentext der beruhigende Hinweis, dass es sich dabei um „ein aufregendes, aber ein sauberes Buch für junge Menschen“ handle.
Mit Der Waggon auf Gleis 7 bediente Meissel ein Genre, das in Österreich – besonders im Vergleich mit der Kinder- und Jugendliteratur etwa Deutschlands oder Großbritanniens – eher unterrepräsentiert war. Johannes Mario Simmel und Rudolf M. Stoiber gehörten zu den Autoren, die hierzulande Kriminalgeschichten für Jugendliche verfasst hatten, doch Wilhelm Meissels Erzählung kann wohl als der erste literarische Kriminalroman für Jugendliche in Österreich bezeichnet werden. Nüchtern und präzise im Detail wird erzählt, die Atmosphäre ist beinahe düster, der bärbeißige Polizeirat Dr. Becher erinnert stellenweise ein wenig an Friedrich Dürrenmatts Kommissar Bärlach. Freilich ging es Wilhelm Meissel nicht bloß um die Dramaturgie eines Kriminalromans, sondern mehr um die Darstellung des komplexen Beziehungsgeflechts einer Reihe sorgfältig gezeichneter Charaktere. Klaus – einer der Protagonisten – gerät in ungeheure Gewissensnöte, traut sich aber dennoch nicht, der Polizei von der Entführung seines Freundes Heinz zu berichten. Die Schuld, die Klaus dadurch auf sich lädt, kann der Freundschaft der Buben letztendlich jedoch nichts anhaben.
Das Motiv der Entführung eines Kindes oder Jugendlichen findet sich mehrmals in den psychologischen Jugendromanen Wilhelm Meissels, so in Besondere Kennzeichen: keine (J&V, Wien/München 1976) und Stefan (J&V, Wien/München 1979). Mit dem erstgenannten Titel hat Meissel die Problematik um den politischen Terrorismus der siebziger Jahre verarbeitet, in Stefan wird die Titelfigur selbst zum aktiv Beteiligten eines Kidnappingszenarios. Stefan erlebt die eigene Entführung freilich vollkommen anders als Heinz in Der Waggon auf Gleis 7, soll sie doch fflr ihn Befreiung aus den bedrückenden Verhältnissen des ungeliebten Elternhauses bedeuten. Heinz ist Halbwaise, einer der Kriminalbeamten wird ihm am Ende der Geschichte den toten Vater ersetzen. Das schreckliche Entführungserlebnis gerät gleichsam zur Katharsis, die aus den Heranwachsenden gefestigte Persönlichkeiten formt und auch deren Familien stärkt. Ganz anders verhält es sich in dem dreizehn Jahre später erschienenen Stefan. Der Roman schließt mit einer für den Protagonisten bescheidenen Zukunftsperspektive. Der Bub ist nicht unschuldig an der Inhaftierung des lieblosen Vaters, seine einzige – wohl illusorische – Hoffnung, die Flucht ins Ausland, hat sich nicht erfüllt, sein engster Freund, eine zahme Dohle, ist tot.
Immer wieder sind Außenseiter die Protagonisten in Wilhelm Meissels herausragenden Jugendromanen der sechziger, siebziger und achtziger Jahre, in Die Spur führt in die Höhle (J&V, Wien/München 1969), Der Überhang (J&V, Wien/München 1972), Stefan und Die Klette (J&V, Wien/München 1983): junge Burschen, die besonders sensibel sind für die Erscheinungen ihrer Umwelt, die unter familiären Problemen leiden oder gar keine Eltern haben (wie Peter in Der Überhang) oder in der Rangordnung der Gleichaltrigen ganz unten stehen (Stefan; Peter; Joschka in Die Spur führt in die Höhle). Aus dieser Positionierung am Rand der Gesellschaft entsteht die Dramaturgie der Erzählungen scheinbar wie von selbst: So entwickeln sich Mutproben unversehens zu lebensgefährlichen Initiationsritualen, durch die auch die Welt der Erwachsenen einigermaßen aus den Fugen gerät. Zusätzliche Spannung ergibt sich aus den Figurenkonstellationen, die der Autor mit großem Geschick entwirft: In Der Überhang und Die Spur führt in die Höhle beispielsweise entspricht dem jugendlichen jeweils ein erwachsener Außenseiter (der harte Bergführer Walker bzw. der aus der Stadt kommende Schriftsteller), für den die „Bewährungsprobe“ der Heranwachsenden auch zur eigenen und damit zur Chance der Reintegration in die Gemeinschaft wird.
Kinder- und Jugendliteratur wird nach wie vor oft rein nach Inhalten (und häufig auch nach weltanschaulichen Gesichtspunkten) bewertet. Eine solche einseitige Zugangsweise wäre angesichts der Werke Wilhelm Meissels vollkommen verfehlt. Die nüchterne, manchmal lakonische Erzählweise, ihre stilistische Einzigartigkeit macht die Jugendromane des Autors zu etwas Besonderem innerhalb der österreichischen Kinder- und Jugendliteratur. Präzise Beschreibungen und sorgfältige Charakterzeichnungen lassen einen ganz eigenen Kosmos entstehen. Für Der Waggon auf Gleis 7 hat Meissel im Milieu der Verschubarbeiter recherchiert und kann so die Leser mit dem Fachjargon der Eisenbahner vertraut machen. Gebirgige Schauplätze bieten dem passionierten Alpinisten Meissel wiederum Gelegenheit, als eine Art Metaebene die Sprache der Bergsteiger vor den Lesern zu entfalten. Die Präzision, mit der eine Wand, eine Rinne oder em Versturz geschildert werden, entspricht der Genauigkeit seiner Menschenzeichnung, die Topographie der Außenwelt kann als Spiegelbild der inneren Topographie, der Seelenzustände von Meissels Figuren, aufgefasst werdenTopographische Besonderheiten finden sich mehrere in den Werken des Autors. Da sind zunächst die Berge, immer wieder spielen auch ein See oder an Sprach- und Landesgrenzen gelegene Landschaften eine Rolle, etwa in Die Spur führt in die Höhle, Stefan oder dem von Erwin Moser illustrierten Das Ungeheuer von Kosiep (Herder, Freiburg/Basel/Wien 1992).
Zu einer „Lebenslandschaft“ wurde für Meissel in den letzten Jahrzehnten aber immer mehr Afrika, genauer: Kenia, und hier besonders das Ufer des Lake Turkana, wo der Autor gemeinsam mit seinem „Lebensmenschen“, seiner Frau Brigitte, ein Hilfsprojekt für das kleine Volk der El Molo ins Leben rief. Unter großen, auch persönlichen Opfern wurde eine Schule gegründet und ausgestattet. Literarisches Engagement und Engagement für die Entwicklungshilfe gingen seither Hand in Hand, immer schwieriger wird es deshalb auch, Begriffe wie „literarische Fiktion“ im Kontext von Wilhelm Meissels Arbeiten der letzten Jahre zu definieren. Christine Saiti war etwa als Lehrerin der El-Molo-Schule in Sereti soll weinen (St. Gabriel, Mödling/Wien 1988) noch Protagonistin einer von vier Kurzgeschichten, in Wilhelm Meissels bislang letztem Werk, Die verlorenen Tiere (Bibliothek der Provinz, Weitra 2003), scheint Christine Saiti als Mitautorin auf. Wie in den Afrika-Büchern Emest Hemingways – dem Meissel in Sereti soll weinen auch sprachlich nicht fern steht – verschmolzen persönlich Erlebtes und Fiktion, wie für Hemingway sind Landschaft, Menschen und Atmosphäre Afrikas auch für Meissel zur ganz großen Sehnsucht geworden.
Als ich mich als Kind in den Weihnachtsferien in Der Waggon auf Gleis 7 vertiefte, hatte ich mir eine kleine Skizze vom Hauptschauplatz des Buches, von der Hamiltonstraße und der angrenzenden Verschubanlage gezeichnet – ein kleines Stück kariertes Papier, das meiner Ausgabe des Romans heute noch beiliegt. Zuvor hatte mich bereits eine weitere Erzählung Wilhelm Meissels fasziniert, für die der inflationär gebrauchte Begriff „Kultbuch“ getrost Verwendung finden darf: Tante Tintengrün greift ein (J&V, Wien/München 1973), eines der ersten „grünen“ Kinderbücher der 1970er Jahre. In der Reihe „Bücherwiffel – Wiffelbücher“ veröffentlichte der Verlag Jugend und Volk mehrere Titel, die inhaltlich, sprachlich und durch die Art der Illustrationen äußerst innovativ wirkten, zum Beispiel auch Renate Welshs Alle Kinder nach Kinderstadt (1974). Ähnlich wie Renate Welsh schilderte Wilhelm Meissel eine Art negative Utopie, die nicht nur für Kinder beängstigend wirken musste, gerade deshalb, weil sie eben in den Siebzigern, als die Betonierer mehr denn je das Sagen hatten, durchaus vorstellbar war. Jahre vor der Besetzung der Hamburger Au griff der Autor das Thema „Umweltschutz“ auf: Kinder aus zwei Nachbarstädten wehren sich gegen die Zerstörung ihres Waldes, die letzlich nur mit Hilfe einer „Zeitstillstehmaschine“ rückgängig gemacht werden kann. Von Nüchternheit der Sprache ist hier freilich keine Spur. Das ganze Buch sprüht vor Witz und Ironie – auch Bürokratismus und Titelsucht werden auf köstliche Weise karikiert. Tante Tintengrün greift ein reiht sich ein in die große Tradition der fantastischen Erzählung innerhalb der österreichischen Kinder- und Jugendliteratur.
Die weiteren Betätigungsfelder Wilhelm Meissels – es waren viele in einem langen, reichen Leben – können hier nur in einer Auswahl aufgezählt werden: Schriftsetzer, Bibliotheksmitarbeiter, Redakteur, Veriagsleiter (Belvedere-Veriag), Lyriker, Übersetzer. Meissel gilt als hervorragender Interpret eigener Werke und versucht bei Lesungen, Schülern und Erwachsenen einen vorurteilslosen Zugang zur Kultur Afrikas zu vermitteln. Er sei kein guter Märchenerzähler, lässt er sein alter ego, den Ich-Erzähler einer Episode aus Sereti soll weinen, feststellen. Er könne noch einer werden, beruhigt diesen daraufhin sein Freund Masele (S. 142). Prompt hat Meissel die bislang nur mündlich weitergegebenen, märchenhaften Erzählungen der El-Molo für den heimischen Leser bearbeitet und veröffentlicht. Das daraus entstandene Buch (Die verlorenen Tiere) wurde im November vergangenen Jahres bei einer großen Feier in der Pfarre Schönbrunn-Vorpark präsentiert. Viele Gäste haben sich mit den Meissels und ihren afrikanischen Freunden darüber gefreut. – Regelmäßig veranstalten Brigitte und Wilhelm Meissel ihrer gemütlichen Wiener Wohnung literarische Abende, „laden gern sich Gäste ein“, sind herzliche, liebevolle Gastgeber, bei denen man sich weniger als Gast, sondern stets „wie zu Hause“ fühlt. „Großzügig“ mag das Wort sein, das das Wesen der Meissels am besten charakterisiert. Ich möchte ihnen nur sagen: „Asante sana! – Vielen Dank!“
(Emmerich Mazakarini, in: libri liberorum. Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturfortschung, Jg. 5, H. 16, Juni 2004)