Das Meer ist riesengroß
Inge Fasan, Linda Wolfsgruber
ISBN: 978-3-85252-765-9
22×19 cm, [42] Seiten, zahlr. farb. Abb., Hardcover
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Kurzbeschreibung
PREISTRÄGER JUGENDBUCH ÖSTERREICHISCHER KINDER- UND JUGENDBUCHPREIS 2008
„Heuer fahren wir ans Meer“, verlautbarte mein Vater nach dem Abendessen. „Das Meer ist riesengroß.“ Ich war sechs Jahre alt und in die Kategorie „riesengroß“ fiel für mich allenfalls der Mammutbaum, den ich von Abbildungen in der Beilage des Mickymaus-Heftes kannte. Unzählige Kinder mussten einander an den Händen fassen, um seinen Stamm zu umspannen.
Auf dem Foto war der Himmel durch die Baumkrone kaum zu erkennen. „Eine riesengroße Wasserfläche“, ergänzte mein Vater. In meinem Kopf entstand das Bild eines gefällten Mammutbaumes, der im Wasser lag. „Das Ende des Meeres sieht man nicht“, sagte meine Mutter. Selbst der Mammutbaum hatte ein Ende, das wusste ich.
Rezensionen
Jens Thiele: Magische FarbeBlau ist die alles bestimmende Farbe in diesem Buch, vom blassen Türkis über ein kühles Preußischblau bis hin zum kräftigen Ultramarinblau, wie es Yves Klein in seinen monochromen Bildern verwendete – jede Seite führt uns die Magie dieser Farbe vor Augen. Blau als Farbe des Wassers, des Meeres, der Unendlichkeit. Das ist das eigentliche Thema des Buches: das Meer als Bild, als Farbe, als Projektionsfläche.
Ein Erwachsener blickt zurück und erinnert sich an seine Kindheit und Jugend, an ein Leben in der Stadt, weit entfernt vom Meer. Für den Sechsjährigen löst die Ankündigung des Vaters, ans Meer zu fahren, eine Sehnsucht nach »dieser endlosen flimmernden Weite« aus. Die Träume werden im Verlauf der Jahre immer übermächtiger, denn nie kommt es zu der Reise – immer passiert etwas, das eine Fahrt verhindert: Die Mutter bricht sich den Knöchel, der Junge wird operiert, die Eltern kaufen sich einen Fernsehapparat, dann trennen sie sich, schließlich verliebt sich der junge Mann.
Inge Fasan erzählt diese Abfolge der Verhinderungen, die zugleich auch die Biografie des Jungen markieren, lapidar und mit verhaltener Ironie, während sie den Fantasiebildern des Erzählers breiteren Raum gibt. Linda Wolfsgruber illustriert die Geschichte nicht im wörtlichen Sinne, aber ihre changierenden blauen Bilder, die in wechselnden Techniken entstanden sind, treffen genau den Ton des Erzählers. Sie setzen eine eigene Farbspur, begleiten den Text mit eigenen Assoziationen. Auf einer Bildseite entdecken wir eine in tiefes Blau getauchte Schwanzflosse, ein fast abstraktes Bild, das sich, blättert man die Seite um, unvermittelt in eine konkrete Figur, in ein Mädchen verwandelt, an das sich der Erzähler erinnert. Beide Seiten zusammen, Fischschwanz und Menschenkörper, verbinden sich zu einem imaginären Bild, das sich sowohl aus konkreter Erinnerung als auch aus Traummaterial zusammensetzt.
Auf den letzten Seiten des Buches, das sowohl Bilderbuch als auch bebildertes Kinderbuch ist, erfüllt sich der Erzähler schließlich seinen Traum. Ganz allein macht er sich auf den Weg in Richtung Süden, bis er endlich am Meer steht und die Augen öffnet. »Ich sah einen schmalen grünen und einen breiten blaugrauen Streifen. Wo die beiden zusammenstießen, flimmerten die Farben.« Wer das letzte Blatt umschlägt, kann dieses Flimmern fast sinnlich erleben. Ein Mann steht im Wasser, oder genauer, ragt aus dem Blau wie eine Fata Morgana. So endet das Buch mit jener Sehunschärfe, die es von der ersten Seite an so faszinierend macht.
(Jens Thiele, Rezension in der Zeit #25/2007)
Caroline Roeder: Blaues Wunder
Wie groß ist „riesengroß“ mit sechs Jahren? Größer als der Mammutbaum aus dem Mickeymaus-Heft? Ohne Ende, meint die Mutter! Ohne Ende ist zweifelsohne riesengrößer als der Mammutbaum. Und zu diesem Wunder soll die diesjährige Ferienreise gehen – was für grandiose Aussichten. Doch, das Meer ist und bleibt in dieser Geschichte vorerst unerreichbar und an den Horizont verbannt. Erst bricht sich die Mutter den Knöchel und so fällt die geplante Fahrt ins Wasser, dann kuriert der kindliche Erzähler im folgenden Jahr eine Blinddarmoperation aus; danach fehlt es an Geld für den Urlaub, anschließend trennen sich die Eltern und – unversehens ist der Junge herangewachsen. Vorerst zieht es ihn nicht zum Meer, denn verlockender erscheint ihm die Liebe und das Mädchen Monika. Und auch wenn man bereits ahnt, dass dies nicht die richtige Entscheidung (für die Liebe und gegen das Meer) war, so passt doch auch dieser Part der Erzählung bestechend genau in die tragikomische Kette an dauerhaften Meer-Blick-Verhinderungen. Doch glücklicherweise endet diese Geschichte des unerfüllten Glücks dann noch glücklich. Auf ihren letzten Seiten führ sie ans Meer. Dorthin reist der inzwischen zum Erwachsenen Herangewachsene; als er es sieht denkt er: „Das Meer ist riesengroß!“
Die österreichische Autorin Inge Fasan erzählt ihre kleine Geschichte fast sachlich und mit lakonischem Witz. Mit Riesen-Schritten durchmisst sie dabei einen Lebensweg, die verpassten Meeresblicke dienen ihr als Stationen. Ihr gelingt eine Kindheits-Geschichte zu entwerfen, die wie auf eine Perlschnur aufgezogen ist, und tiefgründige Fragen beinhaltet: Nach Sehnsucht und Sehnsüchten, nach Lebenswünschen und unerfüllten Träumen.
Linda Wolfsgruber hat für diesen klug konzipierten Weg wunderbare Bilder entworfen. Sie sind alle blau – blau wie das Meer, blau wie die romantisch-blaue Blume, blau wie die Sehnsucht. Mal doppelseitig, mal über die Seiten laufend (besonders schön das Landmädchen Monika, die anspielungsreich aus einem Meerjungfrauenschwanz entspringt), mal als blaupapierener Hintergrund. Wolfgrubers Illustrationen sind einfach und bestechend schön. Die Künstlerin schafft luzide, transparente Traumbilder, surreale kleine Inszenierungen und Szenarios, die alle ins – ja schon wieder – Blaue reichen, aus dem Blau hervortauchen, mit dem Blau davon treiben. In diese Bildwelten zieht es einen hinein; man segelt beim Betrachten über die Seiten und leise durch die Szenen. Der Horizont, der Meer und Himmel als feine Linie trennt, ist bei der Seitengestaltung immer mit aufgenommen. Mal stehen sich Text und Bild gegenüber, mal nehmen die Bilder den Schnitt zwischen den Elementen auf. So gelingt es, Text und Bild zu konfrontieren und zu verschmelzen. Markiert werden zarte Übergänge, vom Kindsein zum Erwachsenwerden, von Träumen zum Reisen, von Himmel und Wasser. Das Blau dient dabei als poetischer Maßstab, als ästhetische Recheneinheit. Und man lernt: Das Maß für riesengroß ist Blau.
(Caroline Roeder, Rezension in: 1000 und 1 Buch, #1/2008)
Claudia Theiner: Das Blau und das Meer
Jugendbuch: Ingrid Fasan und Linda Wolfsgruber schaffen einen Fantasieozean.
Bis sich der Wunsch, das Meer zu sehen, erfüllt, vergehen die Jahre der Kindheit, und der Junge zieht sich auf seinen Fantasieozean zurück. Dem Blau der Bilder sind Sehnsucht und Beharrlichkeit eingeschrieben, nicht die schlechte Laune darüber, dass das Erlebnis Meer immer wieder aufgeschoben wird. Ingrid Fasans Geschichte setzt die Südtiroler Künstlerin Linda Wolfsgruber in weiträumigen Illustrationen um. Die Sehnsucht macht sie mithilfe von leiser Metaphorik greifbar, dem Geleise des Nachtzuges, halb Mensch, halb Fisch. Stilisierte Figuren vor kräftigem Blau, eingeschobene Farbflächen, Schattierungen und Typografie-Variationen erzeugen die charakteristische Schwingung des Buches.
„Das Meer ist riesengroß“ wurde vor Kurzem mit dem Österreichischen Kinder- und Jugendliteraturpreis 2008 ausgezeichnet.
(Claudia Theiner, Rezension in: ff. Das Südtiroler Wochenmagazin, veröffentlicht am 29. Mai 2008)
Studien- und Beratungsstelle für Kinder- und Jugendliteratur: [Rezension]
Verschwommen im Meer, getrieben von den Wellen des Schicksals zwischen Kindheit, Jugend und dem Erwachsenwerden. Der im Alter von sechs Jahren ausgesprochene Wunsch, das Meer zu sehen, zieht sich über knapp ein Jahrzehnt bis zu seiner Erfüllung. Dazwischen liegen Irrfahrten und Ablenkungen, verursacht durch Krankheiten, eine Scheidung oder die erste Liebe. Das Meer in seiner unfassbaren Größe erstreckt sich in der Inhalts-, Text- und Bildgestaltung als Metapher für die Vielschichtigkeit des Lebens.
Linda Wolfsgrubers ausschließlich in blauen Farbtönen gehaltene Illustrationen scheinen zwischen stark zurück genommenen Objekten und breiten Farbflächen zu verfließen. Sie erzeugen das Gefühl einer langsamen, aber stetig treibenden Bewegung, die sich im Text widerspiegelt. Ein auf allen künstlerischen Ebenen anspruchsvoll gestaltetes Bilderbuch über das Treiben zwischen den Wellen des Lebens.
(Rezension für: STUBE. Studien- und Beratungsstelle für Kinder- Jugendliteratur)
https://www.biblio.at/rezonline/ajax.php?action=rezension&medid=47448&rezid=27953
Österreichischer Kinder- und Jugendbuchpreis: „…und plötzlich war die Geschichte da.“
„Das Meer ist riesengroß“ erzählt die Geschichte von jemandem, der davon träumt, ans Meer zu fahren. Wie sind Sie denn zu diesem Stoff gekommen?
Fasan: Die Geschichte ist schon einige Jahre alt. Sie entstand parallel zur Beschäftigung mit bzw. zur Mitarbeit an einem Abend zum Thema „Seemannslieder“ im Theater in der Drachengasse. Ich habe damals ununterbrochen Freddy Quinn und Lolita gehört und mich auch daran erinnert, wie es für mich als Kind war, von der Existenz des Meeres zwar zu wissen, aber keine genaue Vorstellung davon zu haben – und plötzlich war die Geschichte da.
Wann waren Sie denn das erste Mal am Meer?
Fasan: Ich war mit 12 oder 13 Jahren zum ersten Mal am Meer – und schrecklich enttäuscht. Ich war damals an der englischen Südküste auf Sprachferien. Es nieselte, eine schmutzig-graue Brühe schwappte meinen Füßen entgegen. Ich erinnere mich daran, dass der Strand mit unzähligen Stückchen einer weißen Plastikfolie übersät war, die im Wind dahinraschelten. Die weiße Plastikfolie kontrastierte mit vereinzelten dunklen Ölpatzen. Alles in allem also nicht sehr einladend. Mir taten die Möwen leid, die in dem Schmutz herumstolzierten. Zwischen den Plastikstückchen und den Ölflecken waren sie mit ihren schwarz-weißen Federn allerdings ideal getarnt.
Wirklich und nachhaltig beeindruckt war ich erst Jahrzehnte später von der Tasmanischen See zwischen Tasmanien und der Antarktis. Dort donnert, tost und rollt einem die Brandung in die Ohren – das hat nichts Gezähmtes mehr. Als ich dann meine erste Robbe in freier Wildbahn gesehen habe, war ich überglücklich.
Ernest Hemingway hat das Meer als den letzten freien Ort auf der Welt bezeichnet. Was bedeutet das Meer für Sie?
Fasan: Vom Meer als einem „freien Ort“ kann keine Rede mehr sein. Ende der 1940er, Anfang der 1950er Jahre konnte man sich auf dem Meer der Zivilisation unter Umständen noch entziehen. Thor Heyerdahl tat das etwa 1947 mit seinem Kon-Tiki-Experiment, dem damals ungeheures Interesse entgegen gebracht wurde. Ernest Hemingway schrieb „The Old Man and the Sea“ Anfang der 50er und bald danach sang Freddy Quinn Seemannslieder. Dieses kollektive Freiheitsgefühl, das damals mit dem Meer verbunden war, gibt es sicher nicht mehr. Vielleicht empfinden Alleinsegler noch so etwas Ähnliches. Aber dabei geht es mittlerweile auch eher darum, wer im Alleingang schneller um die Welt segelt, als darum, ein besonderes Gefühl zu erleben.
Ich persönlich habe ein zwiespältiges Verhältnis zum Meer: Ehrlich gesagt fürchte ich mich ein wenig davor oder habe zumindest gehörigen Respekt. Ich halte mich gerne am Meer auf, ich schwimme aber nicht gerne im Meer, weil es mir irgendwie zu eigenständig, zu selbstständig ist. Ich habe immer das Gefühl, es könnte mich jederzeit verschlingen oder vernichten und duldet mich nur gnädig, wenn ich darin herumstrample. Darum bleibe ich lieber am Ufer und beobachte. Überhaupt interessieren mich am Meer eher die Übergänge von Land und Wasser, die Strände, die Ränder, die Küsten und die Menschen, die dort wohnen, quasi das Leben zwischen zwei Aggregatzuständen. Ich glaube, dass die Menschen, die vom und mit dem Meer leben, auch ganz besondere Geschichten zu erzählen haben. Das ist wahrscheinlich ein Traum von mir: eine Zeit lang an einer Küste zu wohnen und den Geschichten der Menschen zuzuhören.
Aber „Das Meer ist riesengroß“ erinnert doch an diese Sehnsucht, die das Meer darstellt?
Fasan: Natürlich existiert der Traum in meinem Buch, und das Meer als Symbol für Sehnsucht nach Freiheit oder Ferne hat auch sicher noch nicht ausgedient. Man darf aber nicht vergessen, dass „Das Meer ist riesengroß“ die Geschichte einer Kindheit erzählt, die etwa 50 Jahre zurückliegt. Damals war die Vorstellung vom Meer sicher noch vager und geheimnisumwitterter, weil es nicht so leicht und schnell zu erreichen war wie heute. Nach dem Unbekannten sehnt man sich wahrscheinlich noch mehr, weil diese Sehnsucht mit eigenen Wünschen und Vorstellungen gefüllt werden kann.
Ihr Buch ist ja keine „klassische“ Erzählung für Kinder, sondern eine Geschichte, die wohl auch Erwachsene lesen können. Hat es Sie überrascht, den Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis zu erhalten?
Fasan: Ich war grenzenlos überrascht, den Preis zu bekommen. Ich habe die Benachrichtigung zuerst sogar für einen Irrtum gehalten. Erst nach einem Telefonat mit Linda Wolfsgruber habe ich registriert, dass es wirklich wahr ist – und mich wahnsinnig gefreut.
Ich finde die Entscheidung der Jury auch sehr mutig, weil das Buch – wie Sie richtig sagen – kein klassischer Text für Kinder ist und auch in die Kategorie „Jugendbuch“ nicht wirklich passt. „Das Meer ist riesengroß“ ist eben auch ein Bilderbuch und die Kategorie „Bilderbücher für Jugendliche“ (und auch für Erwachsene) existiert einfach nicht. Dabei gibt es genügend tolle Bücher, die man in eine derartige Kategorie einordnen könnte.
Und planen Sie nun, auch für Kinder zu schreiben?
Fasan: Extra FÜR Kinder zu schreiben, habe ich mir noch nie vorgenommen und ich wüsste auch gar nicht, wie ich das anstellen soll. Wenn mir ein Text gelingt, den auch Kinder oder Jugendliche lesen wollen, dann ist das – für mich zumindest – ein Riesenerfolg. Kinder und Jugendliche sind viel kompromissloser und nehmen ein Buch sicher nur dann zur Hand, wenn es sie wirklich interessiert, und nicht, weil es gerade in ist, den jeweiligen Autor oder die jeweilige Autorin zu lesen. In diesem Sinn kann ich nur hoffen, dass mir viele solche Texte einfallen!
Herzlichen Dank für das Gespräch.
(Inge Fasan im Gespräch anlässlich der Auszeichnung für „Das Meer ist riesengroß“ mit dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis 2008 in der Kategorie Jugendbuch)
https://www.lesefest.at/archiv/kinder-und-jugendbuchpreis-2009/autorinnen-und-autoren-im-gesprach-2019.html