
Der Pass mit dem Judenstempel
Eine Familiengeschichte in einem Stück Weltgeschichte 1925–1975 · Essay
Georg Kreis, Andrea Welker
edition münchenISBN: 978-3-901862-12-0
17 x 12 cm, 88 Seiten, m. Abb., Hardcover
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Kurzbeschreibung
1. Begegnet sind sie sich 1919. Fritzmartin Ascher war 1914 nach dem Abitur als Freiwilliger – mit dem »Faust« im Sturmgepäck – fürs deutsche Vaterland in den Krieg gezogen, auf dem Feld der Ehre schwer verwundet und mit dem Eisernen Kreuz 1. Klasse ausgezeichnet worden und nach einem weiteren Einsatz in französische Gefangenschaft geraten. 1919 auf Grund der Genfer Konvention in der Schweiz interniert, begann er sein Studium – und lernte die gleichaltrige Elsa Schütz aus Bönigen (im Kanton Bern) kennen, die, was damals sozusagen dem Maximum einer weiblichen Berufsexistenz entsprach, Primarlehrerin war und bereits seit 1914 in diesem Beruf mit viel Erfolg gearbeitet hatte.
2. Elsa wartete sechs Jahre, bis sie ihn heiratete. Und dann wartete sie nochmals zwei Jahre, bis sie ihren Hausrat auspackte. Erst 1927 nach der Geburt ihres ersten Kindes konnte sie sich dazu überwinden. Tochter Marianne, heute in den USA, erinnert sich: »She did not unpack her belongings after wedding, till I arrived…« Er sei schon recht, meinte die Mutter, aber das Land, aus dem er komme und in das er unbedingt zurückkehren wolle, dieses Land! Sie hatten im April 1925 in Mannheim geheiratet und lebten dann »in diesem Land« bis zu ihrem Tod. Zurück in die Schweiz? Während des Krieges konnten sie nicht, und nach dem Krieg wollten sie nicht. Doch als 1976 auch sie starb und ihrem wenige Monate zuvor verstorbenen Gatten folgte, da wurden, wie die beiden Töchter per Leidzirkular bekanntgaben, die Aschen vereint »der Erde der Schweiz zurückgegeben«. Damit entsprachen sie den testamentarischen Anweisungen, die eine offene »Bestattung« der Kremationsasche entweder auf der Schynigen Platte (in den Berner Alpen) oder in der Aare wünschten.
3. Elsi, Bürgerin von Sumiswald und Thun, hätte allerdings schon früher – 1939/40 – in die Schweiz zurückkehren können, sie war aber, wie Fritzmartin am 24. Februar 1940 den Zürcher Freunden schrieb, nicht zu bewegen, »alleine in ihre Heimat zu fahren«; sie weise »auch nur den Gedanken« entrüstet zurück. In jenen Jahren hätte sie sich aus Rassegründen von ihrem jüdischen Partner scheiden lassen können. Von den Behörden war sie nachdrücklich auf diese Möglichkeit aufmerksam gemacht worden. Am 14. Oktober 1941 stellte das Standesamt von Mannheim jedoch gegen 60 Pfennig vielmehr ein Duplikat der Heiratsurkunde aus, welches, gestempelt mit Reichsadler und Hakenkreuz, den Abschluss der »Mischehe« von 1925 bestätigte.
4. Fritzmartin Ascher, zunächst zur Philosophie hingezogen, in diesem Fach aber zu wenig gefordert, studierte in Bern, Marburg und Heidelberg Naturwissenschaften. 1923 doktorierte er und war von da an mit Hingabe und Erfolg Lehrer, seit 1927 Gymnasialprofessor am Hilda-Gymnasium in Pforzheim. Auf Ende April 1926 war Elsi aus dem bernischen Schuldienst ausgetreten und hatte sich ihren Pensionskassenanteil nach Deutschland ausbezahlen lassen, damals – 1926 – war sie immerhin bereits 31 Jahre alt. 1927 kam ein erstes, 1930 ein zweites Kind zur Welt, und alles in allem führte man eine bürgerliche Normalfamilie des gehobenen Mittelstandes, solide und zugleich höheren Werten verpflichtet …
[Hrsg. von Andrea Welker]
Rezensionen
Evelyn Ebrahim Nahooray: [Rezension]In einer Ausstellung der Schweizerischen Landesbibliothek wurde ein Pass mit dem roten J-Zeichen – in diesem Fall war es kein Stempel, sondern sorgfältig eingezeichnet – gezeigt. Der Schweizer Historiker Georg Kreis beschloss das Schicksal des Passinhabers Fritzmartin Ascher zu erforschen. Mit Hilfe von dessen Töchtern und dank der besonderen Anzahl noch vorhandener Originaldokumente konnte das Leben von Fritzmartin Ascher rekonstruiert werden.
Fritzmartin Ascher war Deutscher, der nach seiner Teilnahme im Ersten Weltkrieg Naturwissenschaften u. a. in Bern studierte. Nach Absolvierung seines Doktorats zog er mit seiner Schweizer Frau Elsie 1925 wieder nach Deutschland, wo er in Pforzheim als Lehrer arbeitete. Mit der Machtergreifung der Nazis endete die bürgerliche Existenz des Ehepaares und seiner zwei Töchter, denn ab 1935 durfte Fritzmartin Ascher als Jude nicht mehr im Schuldienst arbeiten und die Familie wurde auch aus ihrer Wohnung gewiesen. Seiner Ehefrau wurde nahegelegt, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen, dass diese aber entrüstet ablehnte. Allein hätte sie auch wieder in die Schweiz zurückkehren können, aber dieses Recht wurde von den Schweizer Behörden den Ehemann und den Kindern verweigert. Die Familie versuchte auch, wenn erst ziemlich spät, in andere Länder, wie z.B. Südafrika oder China auszuwandern, es ergab sich aber keine Möglichkeit mehr.
Nach einem Umzug nach Mühlacker musste Fritzmartin Ascher Zwangsarbeit verrichten, auch Ehefrau und älteste Tochter wurden dienstverpflichtet. Wenn er auch unter sehr schweren Bedingungen leben musste, so konnte er aber doch mit Hilfe einiger gutgesinnter Menschen des Ortes überleben.
(Evelyn Ebrahim Nahooray, Rezension in: David. Jüdische Kulturzeitschrift, 18. Jg., Nr. 70, September 2006, S. 88)
http://david.juden.at/buchbesprechungen/66-70/70-nahooray.htm