
Die Biedermeiertherapie
Roman
Harald Kislinger
ISBN: 978-3-85252-263-0
21 x 15 cm, 228 Seiten, Hardcover
19,00 €
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Kurzbeschreibung
»Ich macht' mich einmal mit mir selber zusammensetzen, nur um zu sehen, wer der Stärkere is, ich oder ich.«
(Johann Nestroy)
»Während einer ruhigen Phase in unserer Gruppentherapie erzählte – ein junger Mann – uns von einem Mann namens Ortiz, der damals auf einer Londoner Bühne auftrat. Er stolzierte in Windeln einher und trank aus einer Milchflasche. Während seiner ganzen Nummer schrie er aus Leibeskräften: "Mammi! Pappi! Mammi! Pappi!" Am Schluß seiner Vorstellung übergab er sich. Es wurden Plastiktüten im Publikum verteilt und die Zuschauer wurden aufgefordert, seinem Beispiel zu folgen.«
(Arthur Janov)
Wien war eine Gemeinheit, eine Gnadenlosigkeit. Die Stadt war für mich die Hölle, eine Hölle aus Stein und Verrat und Spießergestalten, so Trotzki, die hat mich stets verschlungen und gedemütigt, da gab es kein Entrinnen. Und schon bald war an diesem Kind festzustellen, kaum den Windeln entflohen, daß es nur ein Ziel hatte, nämlich die Menschen von ihrer nacktesten Seite zu erleben, innen wie außen, die ganze Seele, den ganzen Körper, alles. Aber wie an den Menschen herankommen, an dieses seltsame menschliche Tier, dieses Tier im Menschen? Da waren nichts als Hemmschuhe, die schwer in die Tiefe zogen und jede Freude verdarben. Diese Stadt, die die Angst beherrschte, die da herausdampfte aus den tausenden von Seelen, die die Augen erblinden ließ, die die Angsthuster zu noch mehr Husten anstachelte, die die schwachen Kinder in die Erde zurückstieß und die alten Leute dem Tode endlich entgegenwarf, diese ständige Angst, diese Wienstadtangst, und inmitten dieser Angststadt, diese vielen »angezogenen« Menschen, die sich hinter allen möglichen und unmöglichen Verkleidungen zu verstecken versuchten, die immer etwas vortäuschten oder in ein Trachtenkostüm schlüpften oder Kinder gebaren, um brave Mütter zu werden oder einfach Mörder wurden und als ehrliche Menschen ins Gefängnis wanderten, in diese Stadt wurde die Fürstin geboren, wie in die finsterste Welt aller Welten, in eine Stadt aus Kot und Trümmern und Menschen, die in stechenden Kostümen und dicken Schutzpanzern steckten. So Trotzki. Las ich. Und sie mit ihrer Nacktheit, mit ihrer Sucht nach Nacktheit. Schon im Kinderbett strampelte sie ihre Fesselhose weg, wollte die Küsse der Mutter auf ihrem Nabel und in ihrem Gesicht spüren und die flache fleischige Hand des Vaters am Bauch. Sie haßte die Winterhandschuhe der Eltern und die spießige Verschwiegenheit dieser zwei Erziehungsgefängniswärter. Sie kroch nackt am Boden herum und wollte die Teppichhaare an ihrer Babybrust spüren. Sie war wie ein wildes Tier in dieser verbauten Biedermeierwohnung. Sie war eine Gefangene zwischen all diesen kitschigen Bildern und Kästen und Tapeten. In der kleinen Kinderbadewanne strampelte sie das Wasser aus dem Becken und schien sich in eine kleine Teufelin zu verwandeln. Sie wollte das klare Wasser, die Wasserstrahlen, sie trank das schmutzige Badewasser, sie mochte das Wasser, weil es lebte, weil es nackt war, trotz des Schmutzes. Sie lebte in einer österreichischen Horror-Picture-Show…