
Großvater geht
Foto-Essay
Georg Pöhlein
ISBN: 978-3-85252-138-1
21 x 19 cm, 18, [32] S., überw. Abb., Hardcover
18,00 €
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Kurzbeschreibung
großvater geht
lange bevor er gestorben ist, habe ich um ihn geweint, damals als kind, allein in dem bett, in dem er geschlafen hat, wenn er zu besuch bei uns war. nur sein geruch war noch geblieben. bis ich im weinen eingeschlafen bin, habe ich geweint um meinen großvater, der nicht mehr da war und nicht mehr da sein würde, wie meine angst geglaubt hatte.
sein haus stand in den wiesen, das dach dem himmelblau verwandt, und leicht schwebend zwischen den anderen häusern des dorfes. die mauerfarbe rose und flieder verwaschen auf jenem aquarell, das sich meine mutter zur erinnerung malen ließ von einem heimatmaler.
dort wuchs sie auf mit ihrem bruder, den wir kinder nur von ein paar photographien kannten:
als kind neben einen großen hund gestellt und als jungen mann mit uniform, das hakenkreuz vor der brust. dieses bild in der küche war von efeu eingewachsen, friedhofsgewächs für einen, von dem niemand wußte, wo er lag in rußland. euer onkel hans ist vermißt, der ist in rußland geblieben. der mußte zum militär. wenn tanz war, haben sie ihn heimgeschickt, da war er zu jung. aber wenig später war er alt genug für den krieg.
freiwillig hat er sich gemeldet, sagt meine mutter. sie war fast noch ein kind, als sie ihren bruder verlor.
es waren große ferien und meine schwester mein jüngerer bruder und ich hatten masern und mußten im bett liegen, als der großvater ins krankenhaus kam. er wurde operiert, und sie haben ihm einen notausgang gelegt. er wurde schüchtern. weil er keine winde mehr halten konnte und seine stuhlentleerung nicht mehr steuern konnte. er wurde jetzt öfters rot und getraute sich nicht mehr unter die leute. selbst bei seinen engsten verwandten war es ihm peinlich. er war sich nicht sicher, ob er nicht doch riechen würde. eine drecksau ist man geworden, eine alte drecksau. er wollte niemand belästigen mit seiner katastrophe. jahre nach dieser operation mußte er wieder ins krankenhaus, weil blut aus dem after sickerte. es wurde ihm kotstein aus dem darm entfernt. der arzt fragte ihn, warum er den anus praeter nicht hat zurückverlegen lassen. das wäre also möglich gewesen. aber niemand hat ihm damals was davon gesagt.
sein tagesablauf wurde vom waschen und säubern bestimmt. auf dem sofa stand immer ein eimer mit wasser, der tauchsieder drinnen, heißes wasser zum waschen für seinen bauch. zum auswaschen der beutel, die er mit einem gurt vor die darmöffnung hängte. der gurt scheuerte manchmal und rieb die bauchdecke wund. wenn er den beutel ausleeren mußte, ging er aus der warmen küche in einen raum ohne ofen. dort standen sein kleiderschrank und ein schreibtisch. dorthin wurden auch die wenigen essensachen gebracht, die gekühlt werden mußten.
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Da liegt der Himmel näher an der Erde
Gomringer – Wurlitz
Lauf Berg lauf