
Nachtspiel
Acht Erzählungen in einer Landschaft
Andreas Weber
ISBN: 978-3-85252-127-5
17×12 cm, 176 Seiten, Hardcover
13,00 €
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Kurzbeschreibung
Hunger. Die Schönheit Ilfracombes wirkt, als nähme alles hier die Gegenwart nur unwillig zur Kenntnis. In wenigen Orten Englands ist der viktorianische Baustil so gut erhalten wie in dieser Stadt an der Nordküsre Devons. Noch heute ist erkennbar, daß hier früher ein Ferienort reicher Bürger und Aristokraten gewesen ist. Auf den Küstenklippen im Westen des Ortes steht das letzte noch geöffnete Hotel aus der großen Ära Südwestenglands, die bis nach dem Ersten Weltkrieg gedauert hat. Die Suiten sind in viele kleinere Zimmer unterteilt worden. Dank der Spielhalle im Erdgeschoß gehen die Geschäfte des Hauses nicht nur während der Sommermonate gut.
Noch deutlicher sichtbar ist der Glanz vergangener Tage an den Hotels, bei denen die Verkleinerung ihrer fürstlichen Zimmerfluchten nicht rechtzeitig gelungen ist. Von den brüchigen Fassaden blättert der Putz ab, nachdem die einst vornehm hellen Farben erst zu verschmiertem Grau verwaschen, dann wie Schmutz weggespült worden sind. Die zerbrochenen Fensterscheiben in den verfallenden Mauern sind nicht mehr erneuert worden, Makler, die diese Liegenschaften zu Spottpreisen erwerben, lassen die Fensteröffnungen nur mit Brettern vernageln, um den Regen abzuhalten. Pensionisten, Männer mit tätowierten Unterarmen samt ihren grell gekleideten Frauen und Kinleuce ihren Urlaub hier und sichern n umgesetzten Geld das matte Weilten Häuser. Arbeitslose aus den Großstädten Englands leben neben den rund zehntausend Einwohnern hier, weil sie für ihr Arbeitslosengeld, vierzig Pfund pro Woche, in der Provinz mehr bekommen. Sie mieten in Gruppen die während der Wintermonate leerstehenden Ferienwohnungen, in der Großstadt könnten sie sich ein Dach über dem Koppf nicht leisten. Manche haben Drogen mitgebracht, wenig später sind Drogenhändler nachgereist.
Alle Wege und Straßen dieser Stadt führen zur promenade entlang der Küste hinunter. An schönen Tagen ist es der Horizont, auf der anderen Seite des Bristol Channels, die Küste von Wales zu sehen. Am Abend beginnen auf dem einen Ufer des Meeres die Laternen entlang der Promenade zu leuchten, drüben am anderen Ufer die Lichter von Cardiff. Der Blick raus auf den Atlantik, ist frei.
Rezensionen
Ferdl Frühstück: [Rezension]„Es gibt keine jungen Erzähler mehr“ ist eins der hartnäckigsten Gerüchte, das sich in der Literaturkritik hält. Wohl wirklich nur ein Gerücht, wenn man Andreas Webers „Nachtspiel. Acht Erzählungen in einer Landschaft“ liest. Die Form der Erzählung ist wohl wirklich nicht sehr beliebt, ist sie doch eine der unspektakulärsten Formen. Autoren, die sie beherrschen, erreichen meist wesentlich größere Dichte und Intensität als in Ihren Romanen. Als Beispiel sei hier nur King Boris Vian angeführt, dessen kurze Geschichten wie Konzentrate oder Essenzen der Romane wirken.
„Acht Erzählungen in einer Landschaft“ hat Andreas Weber seine Geschichten unterbetitel. Die englische Landschaft um die Städte Ifracombe, Barnstaple und Woolacombe – der Autor hatte diese Gegend mehrmals bereist und sich auch beruflich dort aufgehalten – bildet allerdings nur die Klammer, die diese Geschichten zusammenhält. Im Zentrum dieser Erzählungen stehen Menschen, deren Biographien sich manchmal kreuzen, meist aber nebeneinander verlaufen. Für andere Autoren wäre das wohl ein Grund, alles unter dem Titel Roman firmieren zu lassen. Weber beläßt es bei Erzählungen, wohl wissend, daß er die einzelnen Geschichten in Rhythmik, Tempo und Dynamik viel besser entwickeln und zur Wirkung kommen lassen kann, sprachlich und gestalterisch genauer den Geschichten entsprechend arbeiten konnte.
In der ersten Erzählung in diesem Band, „Hunger“, bedient sich der Autor einer knappen, reduzierten, fast journalistischen Sprache. Sie ist gewissermaßen der Aufriß von Landschaft und Menschen, ihren Widersprüchen und Verhältnissen. Ein Intro, das schon ahnen läßt, daß es in den folgenden Erzählungen mehr als um Landschafts- und Menschenbetrachtungen geht und auch zeigt, daß Weber ein genauer Beobachter ist, der nicht an Oberfläche und Image hängen bleibt.
Eine der stärksten Geschichten in diesem Band ist wohl „Der Springer“, die Geschichte des Tischlers John Smith, der, im Zuge der thatcheristischen Privatisierungen arbeitslos geworden, nach langer Zeit erstmals eine Auftragsarbeit erhält. Eine völlig sinnlose überdies, die, wie die Leser/innen im Fortgang der Geschichte erfahren, auch noch völlig umsonst war. Das Interessante an dieser Erzählung ist sicherlich auch die Dramaturgie der Geschichte – man ahnt früh schon den tragischen Ausgang. Mehr noch packt die Veränderung der Haltung und der Meinungen des Tischlers und seiner Frau, die früher klar auf Labour-Linie waren, aber im Zuge der Privatisierungen auch zu einigen Aktien ihres ehemaligen Betriebs gekommen waren. Mithin sind sie doch selber Aktionäre und somit logisch Parteigänger der Tories. Weber schreibt diese Geschichte ohne sozialromantischen Touch, ohne klägliches Lamento über die bewußtseinsmäßigen „Verirrungen“ in das Lager der Gegner. Zynismus mögen ihm manche vorwerfen; doch der Autor hat die Working Class Heroes einfach so beschrieben, wie sie wirklich sind. Und das nicht nur im England der Tories.
„Nachtspiel“, jene Erzählung, die dem Band den Titel gegeben hat, ist einer der schönsten Texte in diesem Buch. „Die Welt sah zu, als das Leben Mark Shepherds sich wendete, doch die Zuseher übersahen diese Wende“ beginnt der Autor die Geschichte über den schier unaufhaltsamen Abstieg des Fußballstars von Tottenham Hotspur, der bei einem Länderspiel einen Hattrick im Vergeben hundertprozentiger Chancen schaffte.
Keine Nominierung mehr für das Nationalteam, Ersatzbank bei den Hotspurs, Verkauf an einen Zweitdivisionär, Ersatzbank. Schier schicksalhaft und unabwendbar scheint der weitere fußballerische Abstieg. Rückzug nach Barnstaple, schließlich Ilfracombe. Kleinbürgerliches Leben als Wirt, Ehe, Kinder – ohne Fußball. Unzufriedenheit. Bis er eines Tages nächtens aufwacht, auf den örtlichen Fußballplatz geht und dort, alleine, das Fußballspiel seines Lebens spielt. „Von diesem Tag an lebte die Familie Shepherd wieder in jenem übersichtlichen Glück, das den Erwartungen ihrer Mitglieder ideal entsprach“, läßt der Autor die Geschicht ausgehen, und den Leser/innen offen, ob dies nicht doch eine Spitze gegen die gängigen Glücksvorstellungen ist. In dieser Geschichte offenbart Weber wohl auch seine philosophische Haltung als Existenzialist am genauesten. Aber das Camus'sche Da-muß-man-wohl-oder-übel-durch durchzieht auch alle anderen Erzählungen wie ein roter Faden.
Eine großartige Entdeckung auf dem weiten Feld der Prosa!
(Ferdl Frühstück, Rezension in: Hillinger Nr. 8, Oktober 1996)
https://webarchiv.servus.at/hillinger/1996/1096/weber.html
Wendelin Schmidt-Dengler: Ilfracombe
Dieses Buch ist schuld, daß ich aus dem Zug an der falschen Haltestelle ausstieg: Ich las darin die Erzählung „Der Satz“, und als der Zug hielt, meinte ich, in Retz zu sein; ich sputete mich mit dem Aussteigen, verließ den Waggon, und als der Zug wieder anfuhr, merkte ich, daß ich auf dem Bahnsteig von Zellerndorf stand, 8 Kilometer vor Retz. Der letzte Anschluß nach dem Reiseziel Znaim war unwiederbringlich dahin. Was mit mir im tiefen Niederösterreich an diesem Abend weiter geschah, ist von geringem Belang, lediglich das Gefühl, daß ich mit den Figuren des Buches „Nachtspiel“ irgend etwas zu tun hatte, gehört in diesen Zusammenhang: Auch die steigen in ihrem Leben irgendwann mit voller Überzeugung an der falschen Haltestelle aus, und meine Fehlleistung war eine Konsequenz einer zutiefst identifikatorischen Lektüre.
Acht Geschichten erzählt Andreas Weber, Kurzgeschichten, ein Genre, das in den fünfziger Jahren florierte und den Sechzigern über Nacht obsolet wurde, und gleich im ersten Text erweist der Autor Ernest Hemingway, dem Meister in dieser Gewichtsklasse, seine Reverenz. Aber seine Figuren gehen auf Distanz zu den Heroen dieser sehr männlichen Prosa; ihr Scheitern ist kleinlaut, nicht zuletzt haben dies die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu verantworten: Weber war 1992/93 foreign language assistant in Ilfracombe (Devonshire), und der Gelegenheiten gab es offenkundig genug, die Menschen und ihre Befangenheiten fein säuberlich zu beobachten: Fischer und Tischler, Lehrer und Lehrerinnen, besorgte Mütter und erfolglose Clowns, und auch ein Fußballer, der das Zeug in sich hat, zum Helden der Nation zu werden, aber bei seinem ersten und einzigen Einsatz im englischen Nationalteam als Ersatzmann gleich drei hundertprozentige Chancen vernebelt – auch eine Art von Hattrick.
Die Geschichte mit dem Titel „Sheila“ erzählt von einem Österreicher, der auf den Namen Engelbert Hemingstein hört, language assistant in Devon ist und der in der Fiktion offenkundig auch der Autor der anderen Geschichte sein soll: Der erste Versuch mit Sheila scheitert, und als Engelbert viele Jahre später als wohlhabender Buchhändler an die Stätte seines früheren Wirkens kommt, klappt es gleich nach dem Wiedersehen mit ihr. Allerdings bleibt die Affäre von zehn Tagen ohne Folgen: Beide geben einander falsche Adressen und bleiben so für eine Leben voneinander verschont. Die beste Geschichte handelt von einem Lehrerehepaar, das alles mustergültig zu machen scheint, das allen anderen und sich selbst als Vorbild dient. Ein Seitensprung des Mannes, mehr noch der Satz, in dem er davon spricht, macht das Paar zu Feinden, ja zu Mördern aneinander.
Es ist die einzige Geschichte, die ein böses Ende nimmt. Sonst läßt der Erzähler seine Figuren immer noch das Loch finden, das der Zimmermann gelassen hat, aber er beschwert diese wohltuend anspruchslosen Geschichten nie mit den Bleiplatten eines Sinnes, der irgendwo im Leben verborgen sein müßte, sondern hilft sich und seinen Figuren mit dem herben und zugleich ironischen Hinweis auf eine Lebenspraxis, die jeder für sich selbst, und sei es ganz im Verborgenen, zu finden hat. So findet auch der unglückliche Fußballer noch im nächtlichen Spiel auf dem Fußballplatz sein Glück; da gelingt ihm alles. Und auch ich habe Znaim noch glücklich an diesem Abend erreicht.
(Wendelin Schmidt-Dengler, Rezension im Falter #42/97)
http://www.arwe.at/wp-content/uploads/2016/04/35_nachtspiel_falter.pdf