Zelba
Puppengeschichten
Liselotte Klotz
ISBN: 978-3-85252-159-6
21 x 15 cm, 64 S., Hardcover
€ 13,00 €
Lieferbar
In den Warenkorb
Kurzbeschreibung
Puppengeschichten : Amelie – Babsi – Die Namenlose – Justine – Mimi – Gulperi – Manfred – Zelba
Amelie
Der Sommerabend neigte sich einer mondlosen Nacht entgegen. Der Rest des heißen Tages lag noch auf den Baumkronen des Parks und den weißen Kieswegen. Die schindelüberdachte, vom Alter dunkel gewordene Holztreppe in der windstillen Ecke des Schloßhofes dehnte sich und stöhnte in Erinnerung an die Hitze. Das steile Dach brütete auf den massiven Steinmauern, die die Wärme gespeichert hatten, wie eine große schwarze Henne. Die Wasserspeier glotzten mit ihren hervortretenden Augen von den Gesimsen und streckten durstig ihre trockenen Kehlen der Nacht entgegen.
Die Schloßkonzerte bildeten jährlich ein gesellschaftliches und kulturelles Ereignis. Die Kammerkonzerte wurden im Gartensaal des Hauptgebäudes abgehalten. Seine hell erleuchteten Fenster verliehen dem Schloß den Abglanz vergangener Tage, der sich in unsere Zeit herüberstahl. Die farbenfrohen Festgewänder früherer Jahrhunderte waren einfachem Schwarz, das sich auf den weißen Kieswegen deutlich abzeichnete, gewichen, die kostbaren, bauschigen Seidenroben der Damen zu hautengen Minis oder Leggings aus waschbaren Synthetics geschrumpft, die Pferdeställe waren zu Hallen umfunktioniert worden, und in den Gesindehäusern hatte sich die Verwaltung mit ihren Computern eingenistet. Die hohen Fenster des Gartensaales waren breit genug, um den lauen Abend und die letzten Laute des verklingenden Tages einströmen zu lassen.
Elisabeth besuchte die Konzerte gerne, besonders an einem Sommerabend wie diesem, an dem das Schwirren der Schwalben die Streicher übertönte und die schlaftrunkenen Vögel im Park zum Zwiegespräch forderte. Die Nachmittagssonne hatte den Gartensaal aufgeheizt. Von der übermäßigen Wärme gedehnt, entließ die prunkvolle Kassettendecke immer wieder ein leises Knarren, das sich in die Barockmusik mischte. Themen verstrickten sich, verwoben sich ineinander, brachten die Körper der Musikanten in Schwingung, schüttelten die schwarzen Strähnen der Violinisten und verwirrten die über das Cello gebeugten Locken.
Elisabeth hatte Mühe, der Musik zu folgen. Sie zog an ihr wie ein unbeachtetes Band vorbei, während der abgelaufene Tag sie noch festhielt und seine Geschäftigkeiten ihre Gedanken einfingen. Schon vor Beginn des Konzertes war Elisabeth die schlanke Frau und ihr schwarz gekleidetes Kind, die in der ersten Reihe Platz genommen hatten, aufgefallen. Da Musikdarbietungen dieser Art für den etwa vierjährigen Knaben ungeeignet schienen, vermutete Elisabeth eine verwandtschaftliche Bindung zu den Musizierenden oder Veranstaltern. Die Unbekannte trug ein erdbraunes Seidengewand, dessen Farbe Elisabeth an das ihrer Puppe Amelie erinnerte. Trotz ihrer Größe lag etwas Weiches in ihrer Erscheinung, das lange Haar, der graugrüne Lidschatten über den dichten Wimpern und das sanfte Braun auf den Lippen im Farbton ihres Kleides. Der Knabe hielt ihre Hand und blickte interessiert auf die Musizierenden.
Julihitze lag in dem nach Süden ausgerichteten Gartensaal. Die Besucherzahl, die dunkle Holzverkachelung an den Wänden, die die letzten Sonnenstrahlen in sich aufgesaugt hatte, und der Applaus nach den ersten Quartetten verstärkte die Wärme im Raum. Selbst das Fächeln mit den steifen Programmheften brachte keine Kühlung. Nach dem Adagio glitt Elisabeths Blick über die erste Reihe. Der Sessel neben der schönen Unbekannten war leer. Der Kleine hatte den Platz mit dem Schoß seiner Mutter vertauscht und lehnte völlig entspannt an ihrer Brust. Seine Locken verschwanden in ihrem Langhaar. Die schwarze Jacke war zu Boden gefallen, das aufgeknöpfte Spitzenhemd ließ Hals und Brust frei. Der Knabe war eingeschlafen.
Die zarten Melodien ließen in Elisabeth Erinnerungen erstehen, die Kindheit ihres eigenen Sohnes, die Zeit, in der er sich wie dieser Knabe an ihren Körper geschmiegt und sie seine Schwere gespürt hatte. Ihre Gedanken kehrten zu ihrer Puppe Amelie zurück, deren braunes Seidenkleid schon brüchig geworden war.
Amelie hatte wie eine Königin auf Elisabeths Kommode gethront, und die steifen Goldborten hatten ihre Unnahbarkeit verstärkt. Die Puppe war das Erbstück einer unverheirateten Tante aus reicher Familie gewesen. Als Elisabeth sie das erste Mal in den Händen gehalten hatte, war das Gefallen an ihr nur gering gewesen. Aber die Erzählungen, die um die Puppe kreisten, und der tägliche Anblick des zarten Porzellangesichtes hatten die Zuneigung zu ihr wachsen lassen. Das gemeinsame Zimmer hatte die Bindung verstärkt und so war Amelie schließlich zum liebsten Bestandteil ihrer Wohnung aufgerückt.