Weihnacht – Hausbuch
Erzählungen, Gedichte, Lieder & Rezepte
Alexandra Paulnsteiner (Hg.)
ISBN: 978-3-99028-421-6
21 x 15 cm, 208 Seiten, m. Abb., Notenbeisp., Hardcover
€ 20,00 €
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Kurzbeschreibung
[Ausgewählt u. hrsg. von Alexandra Paulnsteiner.
Mit Texten von Hans Christian Andersen, Theodor Fontane, Georg Trakl, Heinrich Heine, Manfred Kyber, Christian Morgenstern, Joseph Roth, Rainer Maria Rilke, Peter Altenberg, Matthias Claudius, Friedrich Nietzsche, Peter Rosegger, Theodor Storm, Paula Dehmel, Wilhelm Curtmann, Kurt Tucholsky, Joseph von Eichendorff, Joachim Ringelnatz, Ida Bindschedler, Walter Benjamin, Karl Kraus, Heinrich Seidel, Ludwig Anzengruber, Carl Hauptmann, Eduard Mörike, Ludwig Ganghofer, Markus Holter, Ottilie Wildermuth, Victor Blüthgen, August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Christoph von Schmid, Charlotte Niese, Lukas, Julius Kreis, Fritz Grünbaum, Wilhelm Busch, & Ludwig Ganghofer.]
KARL KRAUS · »WEIHNACHT«
Als ich am Heiligen Abend mit einem Freunde reiste, um der Stimmung zu entgehen, zu der uns die Stimmung fehlte, erkannte ich, wie sich das Bild der Welt verändert hat, seitdem ihr die Stimmung vorgeschrieben ist. Drei Handlungsreisende, die in der dritten Wagenklasse nicht mehr Platz gefunden hatten, drangen in unser Coupé und begannen sofort von Geschäften zu sprechen. Sie sprachen aber in einem Ton, der etwa den Ernst jenes Lebens offenbarte, aus dem die Anekdoten ihren Humor schöpfen. Wir räumten das Feld, und nachdem wir eine Weile von draußen einem Kartenspiel hatten zusehen müssen, bekamen wir Plätze in der ersten Klasse angewiesen. Dort erkannte ich die Bedeutung dieses Abenteuers in dieser Nacht. Wer ohne Abschied von Gott den Zug bestiegen hat, wird ihn als guter Christ verlassen. Er ist bekehrt, er sehnt sich wieder nach dem Duft von Harz und Wachs und Familie. Ihm, nur ihm wurden solch Heilige Drei Könige gesendet …
So hätten auch wir unsere Weihnacht erlebt, wenn nicht die Stimmung, der wir uns also ergeben mussten, durch eben jene wieder gestört worden wäre. Denn sie drangen nun auch in die erste Klasse und verlangten Genugtuung, weil sie vermuten zu können glaubten, dass wir uns über ihr morgenländisches Betragen beim Schaffner beschwert hätten. Sie sagten stolz, sie seien Kaufleute. Sie zogen die Stiefel aus und spielten Tarock. Sie borgten sich die Ehre von Gott in der Höhe, nahmen den Frieden von der Erde und waren den Menschen kein Wohlgefallen.
Wir aber, die den Weihnachtstraum wieder entschwinden sahen, beugten uns vor der Übermacht der Religion, für die sie reisten … Wer vermöchte sich ihr zu entziehen? Sie drang aus der dritten empor in die zweite Klasse und sie übt Vergeltung bis in die erste Klasse. Im Diesseits und im Jenseits gewinnt sie um geringern Lohn den bessern Platz. Sie lässt das Leben nicht zur Ruhe kommen und in der Kunst erreicht sie es mühelos, dass man ihr die bequeme Geltung einräumt. Sie ist da, und man flüchtet auf den Korridor.
Zieht man sich dann aber in die Unsterblichkeit zurück, so verschafft sie sich auch dort Einlass. Sie ist da und dort. Vor der Allgewalt des Geschäftsreisenden ist in der Welt des Heiligen Geistes kein Entrinnen.