Nachbarn
Ein österreichisch-tschechisches Geschichtsbuch
Niklas Perzi, Ota Konrád , Hildegard Schmoller , Václav Smidrkal
ISBN: 978-3-99028-817-7
27×21 cm, 416 Seiten, zahlr. vierfärbige Abb., graph. Darst., Kt.; fadengeheftet, kapitales Hardcover m. Lesebändchen
€ 34,00 €
Momentan nicht lieferbar
Leseprobe (PDF)
Kurzbeschreibung
Jahrhundertelange Nachbarschaft und dreihundert Jahre gemeinsam verbrachte Staatlichkeit verbinden Österreicher und Tschechen – ein Volk mit zwei Sprachen oder doch missgünstige Cousins?
Dieses Buch lässt in zwölf Kapiteln die Geschichte der vergangenen zwei Jahrhunderte des Zusammen-, Auseinander-, Nebeneinander- und Gegeneinanderlebens Revue passieren. 27 Historikerinnen und Historiker aus beiden Ländern spüren in zwölf Überblickskapiteln Gemeinsamem und Trennendem nach. Sie stellen dabei nicht zwei Nationalgeschichten nebeneinander, sondern zeigen, wie sich bestimmte Entwicklungen da wie dort in die Gesellschaften eingeschrieben haben.
Nach „Völkerfrühling“ und bürgerlicher Revolution folgte noch im gemeinsamen Staat eine Periode der Entfremdung. Gemeinsam verlebt, unterschiedlich erlebt, könnte man das Zusammenleben in den letzten Jahrzehnten der Habsburgermonarchie und im Ersten Weltkrieg bezeichnen. Die nach 1918 neu entstandenen Staaten (Deutsch-)Österreich und Tschechoslowakei lebten im Spannungsfeld von Konkurrenz, Miteinander und desinteressiertem Nebeneinander. Trotz der verschiedenen Staats- und (nach 1948) Systemzugehörigkeit gab es Gemeinsamkeiten. Nach 1989 und dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ schienen Konflikte wie „Temelin“ oder die „Beneš-Dekrete“ zu dominieren: Dies, obwohl die gegenseitigen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Kontakte so eng wie seit 1918 nicht mehr sind.
Das von der Ständigen Konferenz österreichischer und tschechischer Historiker zum gemeinsamen kulturellen Erbe (SKÖTH) initiierte Buch soll zum gegenseitigen Kennenlernen und Verständnis beitragen.
[Hrsg. von Niklas Perzi, Hildegard Schmoller, Ota Konrád & Václav Šmidrkal für die Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien.
Mit Beiträgen von Tomáš Dvořák, Stefan Eminger, Lukáš Fasora, Hanns Haas, Richard Hufschmied, Ota Konrád, Petr Koura, David Kovařík, Sandra Kreisslová, Suzanne Kříženecký, Rudolf Kučera, Miroslav Kunštát, Niklas Perzi, Václav Petrbok, Walter Reichel, Hildegard Schmoller, David Schriffl, Jaroslav Šebek, Václav Šmidrkal, Arnold Suppan, & Luboš Velek.]
Rezensionen
Martin Kugler: Wort-BandDie Beziehung zwischen Österreich und Tschechien ist seit jeher gespannt. Um Gräben zuzuschütten, haben Historiker beider Länder nun ein gemeinsames Geschichtsbuch verfasst.
Was am Freitagabend im Haus der Geschichte im Museum NÖ in St. Pölten geschieht, verdient das Attribut „epochal“: Präsentiert wird das Buch „Nachbarn. Ein österreichisch-tschechisches Geschichtsbuch“ (Niklas Perzi et al., 412 S., Bibliothek der Provinz, 34 €). Wer mit der Materie nicht so vertraut ist, wird die Einzigartigkeit dieses Ereignisses vielleicht nicht gleich erkennen. Doch es gibt in Europa keine anderen zwei Staaten, die ihre gemeinsame Geschichte derart unterschiedlich interpretieren wie Österreich und Tschechien. Das beginnt bei den Hussiten, geht über den 30-jährigen Krieg und das Ende der Donaumonarchie und reicht bis in die Nazi-Zeit und die Geschehnisse nach dem Ende des „Ostblocks“.
Die Verwerfungen zeigen sich auch in vielen Stereotypen, die Österreicher von Tschechen haben und umgekehrt. So sind wir Österreicher in den Augen viele Tschechen überheblich, oberlehrerhaft und zugleich rückständig. Den Tschechen sagen viele Österreicher hingegen nach, sie seien heimtückisch, häretisch, ein „Dienstbotenvolk“ und „Totengräber der Monarchie“. Diese Ressentiments sind wirkmächtig wie eh und je: Staatsbesuche sind selten, Konfliktpunkte (etwa Atomkraftwerke oder die Beneš-Dekrete) werden von manchen Gruppen auf beiden Seiten gnadenlos ausgeschlachtet und in innenpolitisches Kleingeld umgemünzt.
In der Wissenschaft versucht man schon länger, diese Spaltungen zu überwinden. Vor zehn Jahren wurde die Gründung einer Ständigen Konferenz österreichischer und tschechischer Historiker beschlossen – und nun ist die Frucht dieser Initiative fertig: ein allgemein verständliches und reich bebildertes Geschichtsbuch, das gemeinsam von tschechischen und österreichischen Autoren verfasst wurde und hinter dem beide Seiten voll stehen.
Dabei werden nicht etwa die zwei Nationalgeschichten parallel erzählt, sondern Ereignisse und Phänomene behandelt, die in beiden Gesellschaften ihre Wirkung entfalteten – z. B. die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, die Besetzung durch Hitler-Deutschland, die (versuchte) Sowjetisierung, das Jahr 1968 oder die Popkultur. Es ist ungemein erhellend und obendrein spannend zu lesen, wenn die Ereignisse in einen größeren Zusammenhang gestellt und die Beweggründe der Akteure auf beiden Seiten erläutert werden.
Beim Schmökern in dem Buch wird einem einmal mehr klar: Ressentiments beruhen meistens schlicht auf Unwissenheit über den anderen.
(Martin Kugler, Rezension in der Presse vom 7. April 2019)
https://diepresse.com/home/science/falsifiziert/5608513/WortBand
science.ORF.at: Auf den Spuren der gemeinsamen Geschichte
Der gemeinsame österreichisch-tschechische Geschichte widmet sich ein neues Buch. Es soll zu einem besseren Verständnis zwischen den Nachbarländern beitragen. Unterschiedliche Interpretationen sorgten in den vergangenen Jahren regelmäßig für Misstöne.
Die Österreicher und Tschechen haben „lange Zeit eher nur nebeneinander als wirklich miteinander gelebt“, beschrieb der frühere tschechische Präsident Vaclav Havel das schwierige Verhältnis einmal. Besonders das 20. Jahrhundert hat die beiden Nachbarländer entfremdet. Diese Entfremdung begann bereits im gemeinsamen Staat, der Habsburgermonarchie, und führte nach dem Ersten Weltkrieg zur Geburt zweier junger Republiken. Trotz eines Teils durchaus guten Verhältnisses in der Zwischenkriegszeit durchlitt diese Nachbarschaft das Grauen des Nationalsozialismus und die daraus resultierende Nachkriegsgewalt und der Vertreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei.
Der Schwerpunkt des 400-Seiten-Werkes liegt daher auch auf der jüngeren Geschichte, die in großen Überblickkapiteln anschaulich dargelegt wird. In einem eigenen großen Kapitel werden die gegenseitigen Stereotype und der schwierige Umgang mit der gemeinsamen Geschichte behandelt. Darin werden auch die wechselseitige Vorurteile seit der gemeinsamen Zeit in der Habsburgermonarchie und die nationalen Traumata der Tschechen – die Schlacht am Weißen Berg 1620 und das Münchner Abkommen 1938 – behandelt.
Langer Weg
Der Weg zum nun fertigen Buch war lang. Bereits 2004 war das Projekt bei den österreichisch-tschechische Historikertagen in der Waldviertel-Akademie auf den Weg gebracht worden. 2009 wurde die Ständige Konferenz österreichischer und tschechischer Historiker zum gemeinsamen kulturellen Erbe (SKÖTH) gegründet. 21 Historiker aus beiden Ländern haben nun vier Jahre an dem Buch gearbeitet.
An jedem Beitrag war ein Autorenteam aus beiden Ländern beteiligt. Ziel war es nicht zwei parallele Nationalgeschichten zu präsentieren, sondern der gemeinsamen Geschichte nachzuspüren. Im Fokus stehen daher weniger Zahlen und Daten, sondern die großen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Das macht das Buch auch leicht lesbar. Stets wurde darauf geachtet, Parallelen und Vergleiche herzustellen.
Bei einigen Passagen merkt man beim Lesen, dass um manche Sätze und Formulierungen wohl gerungen wurde. „Es war nicht immer leicht“, erzählt der Historiker David Schriffl, der an dem heiklen Kapitel über die Vertreibung und Zwangsaussiedlung der Sudentendeutschen mitgearbeitet hat, gegenüber der APA. „Die Diskussionen waren zum Teil mühseliger als erwartet, aber es hat sich gelohnt. Das, was vorliegt, können beide Seiten unterschreiben“, sagt der Historiker an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).
Beitrag zu bilateralen Verhältnis
Dafür mussten immer wieder beide Seiten aufeinander zugehen, auch deswegen sei die Arbeit ein positiver Beitrag für das bilaterale Verhältnis der beiden Länder. Gerade die umstrittenen Punkte wurden gemeinsam aufgegriffen. „Wenn jede Seite das allein geschrieben hätte, hätte das Ergebnis sicher anders ausgesehen“, so Schriffl. Weniger als über die Fakten wurde über Akzentsetzungen und einzelne Formulierungen diskutiert. Als Schulbuch ist das Werk nicht gedacht, parallel entstanden aber didaktische Materialien für den Schulunterricht sowie eine Broschüre.
Die Historiker haben mit diesem Werk ihren Teil geleistet, um eine versöhnliche gemeinsame Sichtweise auf die gemeinsame Vergangenheit zu ermöglichen. Ob Politik und Gesellschaft diese Chance annehmen, bleibt abzuwarten. Der streitbar tschechische Präsident Milos Zeman, der vor wenigen Jahren die Sudetendeutschen noch als „fünfte Kolonne Adolf Hitlers“, die mit der Vertreibung noch milde davongekommen seien, bezeichnet hatte, sagte bei seinem Besuch vergangenen Woche in Wien auf die Frage eines Journalisten, ob man nun von Vertreibung spreche oder ob in Tschechien weiterhin das Wort Abschub verwendet würde: Mit Begrifflichkeiten sollten sich „qualifizierte Historiker und nicht nichtqualifizierte Journalisten auseinandersetzen“.
Der erfolgreichen Aufarbeitung der österreich-tschechischen Geschichte könnte bald ein ähnliches Projekt zwischen Österreich und der Slowakei folgen, wie die Parlamentspräsidenten beider Länder im vergangenen Dezember bei einem Treffen ankündigten. Trotz zahlreicher Parallelen zwischen Tschechien und der Slowakei, die fast das gesamte 20. Jahrhundert in einem gemeinsamen Staat verbrachten, war das Verhältnis zwischen Wien und Bratislava stets deutlich weniger kompliziert als jenes Wiens zu Prag.
(Rezension: science.ORF.at/APA, 10. April 2019)
https://science.orf.at/stories/2975126/
Thomas Götz: Was uns trennt, was uns verbindet
Geschichte zweier Nachbarn
Nichts kann schärfer trennen als eine gemeinsame blutige Geschichte. Historiker aus Tschechien und Österreich erarbeiteten ein Geschichtsbuch, das beiden Seiten gerecht zu werden versucht.
„Das ist ein Buch, das in der europäischen Nachkriegsgeschichte einmalig ist.“ Wolfgang Sobotka, Historiker und Nationalratspräsident, greift zu gewichtigen Worten, um das Werk zu beschreiben, das ihm am Montag in der Residenz des österreichischen Botschafters in Prag überreicht wurde. Lange hatten Tschechen und Österreicher „eher nur nebeneinander als wirklich miteinander gelebt“, wie Václav Havel, Dissident, Autor und tschechischer Präsident, einmal sagte. Nun liegen 411 großformatige Seiten vor, die die gemeinsame Geschichte erzählen, verfasst von 21 tschechischen und österreichischen Historikerinnen und Historikern.
Das Ziel war, nichts auszusparen. Nicht die demütigende Behandlung der Tschechen in der Monarchie, nicht die Gräuel der NS-Besatzer, nicht die Morde an Sudetendeutschen und die Vertreibung der deutschsprachigen Minderheit nach dem Krieg. Es sollte endlich offen geredet werden über die schwelenden Konflikte, die bis in die Gegenwart ausstrahlen und das Miteinander erschweren. Ein langes Kapitel geht auf die engen kulturellen Beziehungen zwischen den Nachbarn ein.
Wie aber verfasst man im Team die jahrhundertelange Geschichte zweier Länder? Und wer denkt sich so etwas aus?
Die Sache begann 2009 mit der Gründung der „Ständigen Konferenz österreichischer und tschechischer Historiker“, kurz SKÖTH genannt. Die Initiative kam von den Außenministern Österreichs und Tschechiens, Michael Spindelegger und Jan Kohout. 2015 fiel der Entschluss zu dem Buchprojekt.
Zahlreich die Tücken: Man entschied sich, die Geschichte auf die Territorien der heutigen Staaten einzugrenzen und den Schwerpunkt auf das 20. Jahrhundert zu legen. Jeder Text sollte von Historikerinnen und Historikern aus beiden Ländern gemeinsam verfasst werden. „Ich war überrascht, wie schnell wir einen Konsens gefunden haben“, sagt Luboš Velek vom Masaryk-Institut in Prag, einer der Autoren. Am meisten Schwierigkeiten hatten die Österreicher untereinander, erzählt Hildegard Schmoller von der Akademie der Wissenschaften in Wien. Sie stritten über innerösterreichische Konflikte – die Bewertung der Ersten Republik und des Ständestaats. Das in der öffentlichen Debatte auch über die Grenze hinweg heikelste Streitthema aber entzweite das Team nicht – die Vertreibung der Sudetendeutschen. Breit schildert der Band deren politische und rechtliche Rahmenbedingungen sowie die spätere Rechtfertigung und Tabuisierung durch das KP-Regime. „Selbstverständlich ist das Faktum der Vertreibung einer ganzen Bevölkerungsgruppe etwas, das nicht gerechtfertigt werden kann“, schreiben die Autoren. Die Begründung, man habe lediglich getan, was die Alliierten in Potsdam gestattet hätten, bezeichnet man als „Potsdam-Mythos“, als eine Fehlinterpretation, die schwere Folgen auch für die Täter hatte. „Das Grenzland leidet bis heute an strukturellen Schwierigkeiten und am Mangel einer langfristigen Bindung der Bewohner an Boden und Land, sodass es trotz der optimistischen Erklärungen der Nachkriegsjahre zur ewigen Peripherie wurde.“
Zustimmend zitiert das Werk Václav Havel, der das Tabu bald nach dem Ende der ČSSR brach: „Ich persönlich – ebenso wie viele meiner Freunde – verurteile die Vertreibung der Deutschen nach dem Krieg. Sie erschien mir immer als eine zutiefst unmoralische Tat, die nicht nur den Deutschen, sondern vielleicht in noch größerem Maße den Tschechen selbst Schaden zugefügt hat, und zwar sowohl moralisch als auch materiell. Auf Böses wiederum mit neuem Bösen zu antworten, bedeutet, das Böse nicht zu beseitigen, sondern es auszuweiten.“
Breiten Raum nehmen die Traumata der Tschechen ein. Die Schlacht am Weißen Berg – als 1620 die protestantischen Adeligen gegen die kaiserliche Armee unterlagen – und die anschließende Umverteilung der Güter der Besiegten. „Finsternis“ nennen die Tschechen die darauffolgenden Jahrhunderte. Das Scheitern des Ausgleichs, der 1871 bereits fertig ausverhandelt war, sich aber gegen den Widerstand von Adel und Regierung nicht durchsetzen konnte. Der missglückte Versuch, 1897 die tschechische Sprache der deutschen im inneren Dienstverkehr gleichzustellen. Den Begriff „Völkerkerker“, den die Tschechen damals für die Monarchie verwendeten, halten die Autorinnen und Autoren dennoch für nicht gerechtfertigt. Die damalige Verfassung habe dem Land trotz aller politischen Hemmnisse eine rasante Entwicklung ermöglicht, argumentieren sie.
Wie Zöpfe verflechten die Texte österreichische und tschechische Reaktionen auf dramatische und traumatische Ereignisse der Geschichte bis herauf ins Jahr 2004, als die Tschechische Republik der EU beitrat. Im Herbst soll die tschechische Übersetzung vorliegen, schon im Mai Unterrichtsmaterial, das auf dem Buch basiert.
Das gelungene Beispiel empfiehlt Nachfolgeprojekte – warum nicht mit Ungarn oder Slowenien Geschichte schreiben?
(Thomas Götz, Rezension in der Kleinen Zeitung vom 4. April 2019, S. 4 f.)
https://www.kleinezeitung.at/politik/innenpolitik/5606881/TschechienOesterreich_Eine-blutige-Geschichte-gemeinsam-neu
Alexandra Demcisin: Perzi: Gemeinsames Geschichtsbuch wäre vor 20 Jahren unmöglich
Ein österreichisch-tschechisches Geschichtsbuch, wie es am Freitagabend in St. Pölten präsentiert wird, wäre vor 20 Jahren noch unrealistisch gewesen. „In den 90er-Jahren oder Anfang der 2000er-Jahre wäre so ein gemeinsames Buch nie möglich gewesen“, sagte Projektkoordinator Niklas Perzi im Gespräch mit der APA. Die Politik hätte das Vorhaben damals nicht unterstützt.
2014 erfolgte dann der Startschuss für das Werk „Nachbarn“. Dass es kein leichtes Unterfangen war, lässt sich erahnen. Keine zwei benachbarten Völker in Mitteleuropa würden die gemeinsame Geschichte so unterschiedlich interpretieren, erklärt der Historiker vom Zentrum für Migrationsforschung in St. Pölten. Perzi: „Gemeinsamkeiten erzeugen auch immer Differenzen und können Anlass für Konflikte sein wie in einer Familie.“
In der Arbeit an vielen Kapiteln des gemeinsamen Geschichtsbuchs habe es zwischen den beteiligten tschechischen und österreichischen Historikern keine interpretatorischen Probleme gegeben. Konsens gab es etwa in der Sicht beider Seiten auf die Monarchie oder die Zwischenkriegszeit. „Gespießt hat es sich dann ein bisschen in den Kapiteln 1938 bis 1948. Aber das war wenig überraschend“, berichtete Perzi.
„Bis 1938 war die Entwicklung mehr oder weniger parallel. Radikal auseinanderentwickelt hat es sich dann erst 1938/39, weil das deutsche Besatzungsregime in Österreich einen anderen Charakter hatte als in Böhmen und Mähren im Protektorat. Die Österreicher galten als Deutsche, mussten oder konnten einrücken, hatten alle Aufstiegschancen und die Tschechen wurden als Bürger 2. Klasse angesehen.“
Diskussion unter den mitwirkenden Historikern habe es auch über Opferzahlen gegeben. „Wie kann man zum Beispiel 240.000 gefallene österreichische Soldaten vergleichen mit tschechischen Opfern?“ Interessant sei dabei auch, dass „die Zahl der hingerichteten und im KZ umgekommenen Widerstandskämpfer respektive Regimegegner in beiden Ländern ziemlich gleich hoch ist – mit circa 30.000 bis 40.000.“
Beim Thema der Vertreibung der Sudetendeutschen habe es dagegen „keine große Diskussionen gegeben“. Auch die Bezeichnung der Vorfälle nach dem Zweiten Weltkrieg als „Vertreibung“ sei für die tschechischen Historiker kein Problem gewesen. Schwierig war es dagegen, Fotos aufzutreiben.
Das Buch zeichnet die Geschichte der beiden Nachbarn vom Mittelalter bis 2004 nach. Vor dem EU-Beitritt Tschechiens 2004 war der Streit um das südböhmische Atomkraftwerk Temelin und die Benes-Dekrete, die nach 1945 als Grundlage für die Vertreibung und Enteignung der deutschsprachigen Minderheit aus der damaligen Tschechoslowakei galten, eskaliert. „Die Kampagne gegen Temelin und die Benes-Dekrete haben für böses Blut gesorgt und Gegenreaktionen ausgelöst.“
Diese Streitthemen seien mittlerweile eigentlich „keine mehr“, sagte Perzi. Ein Paradigmenwechsel habe stattgefunden: Beide Länder seien gleichberechtigte EU-Mitglieder und könnten gemeinsame EU-Gelder für die Grenzregion lukrieren. Die beiden Staaten seien heute auf allen Ebenen des wirtschaftlichen, kulturellen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Lebens eng verflochten.
Damals habe Österreich in Zentraleuropa eine Führungsrolle beansprucht. Das sei gerade im Nachbarland nicht so positiv aufgenommen worden. Tschechen hätten sich bevormundet gefühlt. „Und auch die Kampagnen gegen Temelin und die Benes-Dekrete haben für böses Blut gesorgt und Gegenreaktionen ausgelöst.“ Der Streit um das südböhmische Atomkraftwerk und die Präsidentenerlässe, die nach 1945 als Grundlage für die Vertreibung und Enteignung der deutschsprachigen Minderheit aus der damaligen Tschechoslowakei galten, eskalierte.
Mittlerweile seien diese Streitthemen eigentlich „keine mehr“, sagte Perzi. Beide Länder seien gleichberechtigte EU-Mitglieder und könnten gemeinsame EU-Gelder für die Grenzregion lukrieren. Die beiden Staaten seien heute auf allen Ebenen des wirtschaftlichen, kulturellen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Lebens eng verflochten.
Die Idee für das Buch gab es 2004. „Sie ist aus der Zivilgesellschaft entstanden, also nicht von oben herab, sondern ‚bottom up‘ (von unten nach oben, Anm.) sozusagen“, berichtete Perzi. Die Politik hat 2009 die Historikerkommission (SKÖTH) gegründet. „Das Projekt konnte dann nach langem Hin und Her, vor allem finanziellen Hin und Her, und auch Dank der Unterstützung des damaligen österreichischen Botschafters in Prag, Ferdinand Trauttmansdorff, 2014 gestartet werden.“
Vier Jahre sei daran geschrieben worden. Insgesamt 27 Autorinnen und Autoren waren beteiligt. Es soll ein populärwissenschaftliches Werk sein. Perzi scherzte: „Es hat den Anspruch, mehr Leser als Schreiber zu haben. Bei vielen wissenschaftlichen Werken ist das nicht immer der Fall.“
(Das Gespräch führte Alexandra Demcisin/APA, erschienen in der Tiroler Tageszeitung vom 10. April 2019)
https://www.tt.com/ticker/15528325/perzi-gemeinsames-geschichtsbuch-waere-vor-20-jahren-unmoeglich
Österreichische Akademie der Wissenschaften: Österreichisch-tschechische Geschichte neu betrachtet
Ein neuer Sammelband, herausgegeben von ÖAW-Historiker/innen, widmet sich der österreichisch-tschechischen Geschichte aus gemeinsamer Perspektive. Trotz aller Unterschiede gab es viele Gemeinsamkeiten – von der Politik bis hin zur Popkultur.
„Österreicher und Tschechen lebten lange Zeit eher nur nebeneinander als wirklich miteinander“, sagte Václav Havel in einer aufsehenerregenden Rede an der Universität Wien im Jahr 1993. Ein Missstand, der bis heute besteht und dem die Historiker/innen Hildegard Schmoller und Niklas Perzi von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) mit ihrem neuen Band zur gemeinsamen Geschichte entgegentreten möchten.
„Nachbarn. Ein österreich-tschechisches Geschichtsbuch“ ist soeben erschienen und behandelt in 12 Beiträgen österreichischer und tschechischer Historiker/innen das Verhältnis der beiden Nachbarländer, vom Mittelalter über insbesondere das 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Der Band wurde am Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung der ÖAW zusammengestellt und durch Drittmittel finanziert. Auch das Masaryk-Institut der tschechischen Akademie der Wissenschaften ist am Buch beteiligt.
Schwieriges Verhältnis, gemeinsame Geschichte
Seine Besonderheit liegt darin, dass jedes Kapitel von einem jeweils eigenen österreichisch-tschechischen Historikerteam verfasst wurde, also immer beide Länderperspektiven vereint. „Natürlich gab es da und dort Unterschiede in der Akzentuierung der Kapitel, auch in der Herangehensweise. Aber das war ja auch der Sinn der Sache“, sagt ÖAW-Historikerin Schmoller, eine von vier Herausgeber/innen.
„Es sollte keine Gegenüberstellung von zwei verschiedenen Ländergeschichten sein, sondern eine Geschichtsschreibung zweier eng verflochtener, in vielerlei Hinsicht vergleichbarer Staaten.“
„Die Idee kam eigentlich aus der Zivilgesellschaft und wurde 2009 von den Außenministern beider Länder aufgegriffen“, sagt Co-Herausgeber Niklas Perzi. „Es sollte keine Gegenüberstellung von zwei verschiedenen Ländergeschichten sein, sondern eine Geschichtsschreibung zweier eng verflochtener, in vielerlei Hinsicht vergleichbarer Staaten.“
So seien sowohl die Tschechoslowakei wie auch Österreich zwei mittelgroße, lange in der Monarchie vereinte Länder gewesen, die erst ab 1918 als eigene Staaten entstanden sind. Die Entwicklung zwischen den Kriegen verlief weitgehend parallel, das änderte sich jedoch durch den „Anschluss“ Österreichs im März 1938 und die Besetzung des tschechischen Teils der Tschechoslowakei durch das Deutsche Reich im März des Folgejahres. Danach wurden die Tschechen wie Bürger zweiter Klasse behandelt, ein halbes Jahr später begann der Krieg.
Beneš-Dekrete, Temelín, Aussöhnung
Ein bis heute schwieriges und ausführlich im Buch behandeltes Thema ist die „Entdeutschung“ nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs infolge der „Beneš-Dekrete“. So wurden zwischen 1945 und 1947 rund drei Millionen sogenannte Sudetendeutsche aus Böhmen und Mähren vertrieben. Die meisten gingen nach Deutschland, eine Viertelmillion nach Ober- und Niederösterreich. Insbesondere der oberösterreichische Zentralraum bot in den Nachkriegsjahren viele Arbeitsplätze in der Industrie, weswegen sich viele Menschen dauerhaft dort niederließen.
„Die ersten demokratischen Wahlen nach Kriegsende waren schließlich richtungsweisend: In Österreich wählten nur fünf Prozent die Kommunistische Partei, in der Tschechoslowakei rund 40. Damit zeichnete sich ab, dass sich Österreich nach Westen orientiert, die Tschechoslowakei nach der Sowjetunion“, sagt Perzi. Die beiden Länder wurden durch den Eisernen Vorhang getrennt, der die marktwirtschaftlich orientierten demokratischen Staaten im Westen von den realsozialistischen Diktaturen des Warschauer Pakts („Ostblock“) trennte.
„Die damalige Flüchtlingswelle nach Österreich und die Hilfsbereitschaft der hiesigen Bevölkerung sind im kollektiven Gedächtnis beider Länder bis heute verankert.“
Zu einer kurzen, insbesondere kulturell-intellektuellen Annäherung kam es im Prager Frühling (1968), jener Bewegung von oben wie unten, die den real existierenden in einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ umbauen und nach Westen hin öffnen wollte. Dieser wurde jedoch durch Truppen des Warschauer Pakts niedergeschlagen, und der Eiserne Vorhang verfestigte sich in der „Normalisierung“ der 1970er Jahre. „Die damalige Flüchtlingswelle nach Österreich und die Hilfsbereitschaft der hiesigen Bevölkerung sind im kollektiven Gedächtnis beider Länder bis heute verankert“, sagt Schmoller.
Nach der „Samtenen Revolution“ und der Grenzöffnung gab es wieder große Hoffnungen für die gemeinsamen Beziehungen, die aber in den Jahren darauf enttäuscht werden sollten. Das Thema der Enteignungen und Entschädigungen für die vertriebenen Sudetendeutschen sowie das Atomkraftwerk Temelín nahe der oberösterreichischen Grenze trübten das nachbarschaftliche Verhältnis. „In beiden Fragen gab es unterschiedliche Interpretationen, die eine Seite verstand die andere nicht“, verdeutlicht Schmoller.
Grenzüberschreitende Initiativen
Durch die deutsch-tschechische Aussöhnung, den EU-Beitritt Tschechiens und einige Initiativen engagierter Politiker/innen haben diese Themen aber etwas an Sprengkraft verloren. Auch grenzüberschreitende Kulturprojekte wie die niederösterreichische Landesausstellung 2009 mit einem Standort in Telč trugen dazu bei. Solche Projekte seien höchst relevant, denn neben der mitunter schwierigen Geschichte sei auch die Sprachbarriere als trennender Faktor nicht zu unterschätzen, so Schmoller.
Bei allen Unterschieden gab und gibt es auch viele Parallelen, wie die Historikerteams im Buch herausgearbeitet haben: So verfolgten sowohl der österreichische Kanzler Bruno Kreisky wie auch Gustáv Husák, Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, in den 1970er Jahren eine moderne integrative Sozialpolitik, die durch das starke Wirtschaftswachstum in beiden Staaten ermöglicht wurde. Damit wurde die jeweilige Politik stabilisiert, während gleichzeitig die vorherrschenden Ideologien an Bedeutung verloren. In der Tschechoslowakei hatte der Marxismus-Leninismus als „politische Religion“ ausgedient, und in Österreich verlor die austromarxistische Tradition der regierenden SPÖ an Bedeutung.
Auch in der Popkultur gab es gemeinsame Entwicklungen. „Durch das Fernsehen verbreiteten sich kulturelle Codes von den Metropolen bis hinaus ins letzte Dorf, es drang tief in die Lebenswelten ein, brach alte Strukturen auf und schuf neue, bis hin zu den Tagesrhythmen“, schreiben Niklas Perzi und Václav Šmidrkal im Buch. Im ORF übertragene Sporterfolge, Serien wie „Mundl“ und „Kottan ermittelt“ sowie Ö3 und Austropop prägten die neue österreichische Identität ganz entschieden mit und brachten eine kritisch-ironische Auseinandersetzung mit gelebter Alltagskultur und Tradition. In der Tschechoslowakei wiederum boten sozialkritische Filme und Serien über die Freuden und Sorgen des kommunistischen Alltags, aber auch subversive Undergroundbands („DG 307“, „Aktual“, „The Plastic People of the Universe“ etc.) einen Gegenpunkt zur staatlichen Doktrin und zu verkrusteten Strukturen.
Beiderseitiger Blickwinkel hat sich ausgezahlt
Auch bei der Annäherung an die EU und der Öffnung der damaligen Tschechoslowakei für die Marktwirtschaft gab es nicht wenige Parallelen zur österreichischen Geschichte, die der Band detailliert ausführt. Dem „Leben an und mit der Grenze“ widmen sich zudem eigene Kapitel – von geglückten und gescheiterten Fluchtversuchen zu Zeiten des Eisernen Vorhangs bis hin zur Grenzöffnung Ende 1989, die Bewohner/innen beider Länder lange herbeigesehnt hatten.
„Es war hier nicht das Ziel, eine gemeinsame Auslegung zu finden, sondern die verschiedenen Sichtweisen auf Ereignisse darzulegen und so einen Beitrag zu leisten, das Gegenüber besser zu verstehen.“
Bei den im Buch behandelten Themen blieb die eine oder andere Debatte nicht aus. „Es war hier nicht das Ziel, eine gemeinsame Auslegung zu finden, sondern die verschiedenen Sichtweisen auf Ereignisse darzulegen und so einen Beitrag zu leisten, das Gegenüber besser zu verstehen. Diese Themen brauchen ihre Zeit“, so die Historikerin – denn die Geschichtswissenschaft ist in Tschechien ja erst seit Anfang der 1990er unabhängig.
Trotzdem und gerade deshalb sei es in höchstem Maße wertvoll, die gemeinsame Geschichte aus beiderseitigem Blickwinkel zu erforschen. Die jahrelange Zusammenarbeit von Historiker/innen beider Länder hat sich jedenfalls ausgezahlt: Das Ergebnis kann man im „österreichisch-tschechischen Geschichtsbuch“ nachlesen.
(Rezension auf der Webseite der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vom 3. Mai 2019)
https://www.oeaw.ac.at/detail/news/oesterreichisch-tschechische-geschichte-neu-betrachtet/
ORF Radio Österreich 1: Eine Geschichte, zwei Deutungen
[…] Als im Jahr 1989 der eiserne Vorhang zum Nachbarn im Norden Österreichs fiel, war die Euphorie über den Zusammenbruch des Kommunismus und die neue Freiheit „im Osten“ zunächst groß. Verknüpft war damit auch die Hoffnung auf ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis zur Tschechoslowakei resp. Tschechien, das nun durch die offenen Grenzen möglich schien. Bald aber stellte sich heraus, dass die Bilder vom Nachbarn durch Ressentiments geprägt waren. Besonders deutlich spürbar wurde dies bei Konflikten rund um den Bau des Atomkraftwerks Temelín oder die Diskussion der „Beneš-Dekrete“ - Chiffre für das komplexe Thema der Vertreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg.
Beide Staaten verbindet bis ins 20. Jahrhundert eine über weite Strecken gemeinsame Geschichte. Durch die Entstehung der modernen Nationalgesellschaften bildeten sich jedoch unterschiedliche Deutungen heraus. In den Jahrzehnten der Trennung und Zugehörigkeit zu unterschiedlichen „Blöcken“ hatten sich gegenseitige Stereotype und nationale Geschichtsnarrative verfestigt. Um dem entgegenzuwirken wurde ein Projekt ins Leben gerufen, das nun in der Publikation eines 400 Seiten starken gemeinsamen österreichisch-tschechischen Geschichtsbuchs gemündet ist. Daran mitgewirkt haben 20 Historiker/innen beider Länder. Ziel war es nicht, die unterschiedlichen Sichtweisen zu vereinheitlichen, sondern zusammenzuführen, indem sie miteinander in den Dialog treten und dadurch besser nachvollziehbar werden.
Der Zeitrahmen der Betrachtung erstreckt sich über das 19. und 20. Jahrhundert. Von der Entstehung der modernen Nationalgesellschaften in der Monarchie und dem Ersten Weltkrieg, an dessen Ende die Gründung zweier vermeintlicher Nationalstaaten stand, die nach nur 20-jährigem Bestehen dem Expansionsdrang Hitler-Deutschlands zum Opfer fielen. Es folgte das unterschiedliche Erleben der deutschen Besatzung und des Nationalsozialismus und das besonders konfliktträchtige Thema der Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Durch die anschließende unterschiedliche Zugehörigkeit zu den zwei Lagern des Kalten Krieges kam es zu einer Periode der Entfremdung.
Die Annäherung nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ 1968, in dessen Folge Österreich viele Flüchtlinge aufgenommen hatte, war nur von kurzer Dauer. In den Folgejahren wurde das Nachbarland für die meisten Österreicher/innen zur „terra incognita“ und als großer Umweltverschmutzer wahrgenommen.
Im Geschichtsbuch wird die Zeit bis zum Beitritt Tschechiens zur EU behandelt. Es werden trennende und verbindende Elemente der Geschichte aufgezeigt, es werden Kräfte, die das Trennende fördern ebenso identifiziert wie Bemühungen der Kooperation, die es parallel dazu immer gab und gibt.
(Ankündigung zur Ö1-Sendereihe „Betrifft: Geschichte“, Gestaltung: Isabelle Engels, ausgestrahlt am 17., 18., 19. & 21. Juni 2019)
https://oe1.orf.at/programm/20190617/556515/Eine-Geschichte-zwei-Deutungen
Ralf Pasch: Verflochtene Geschichte
Österreich und Tschechien können auf eine lange gemeinsame Geschichte zurückblicken, die durch viele Brüche geprägt ist. Ein Buch versucht nun, das Gemeinsame wie das Trennende zu vereinen. 27 österreichische und tschechische Historiker und Historikerinnen arbeiteten vier Jahre lang an dieser Publikation – mit dem Anspruch, nicht zwei Ländergeschichten gegenüberzustellen, sondern die Geschichte der Nachbarn in ihrer Verflechtung zu erzählen. Die zwölf Kapitel, die dieses Versprechen durchaus einlösen, sind von österreichisch-tschechischen Teams gemeinsam verfasst worden.
Das Projekt hatte einen langen Vorlauf. Die 2009 gegründete Ständige Konferenz österreichischer und tschechischer Historiker zum gemeinsamen kulturellen Erbe schlug dieses Buch vor. Nun liegt es mit über 400 Seiten und zahlreichen Abbildungen vor. Die »österreichischen und die böhmischen Länder«, wie sie im Buch bezeichnet werden, waren lange unter dem Dach der Habsburgermonarchie vereint. Der Vielvölkerstaat zerfiel am Ende des Ersten Weltkriegs. Zwei selbständige Republiken entstanden, deren Grenzen durch das NS-Regime, nach dem Zweiten Weltkrieg und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs immer wieder neu gezogen wurden. Das Leben an und mit diesen Grenzen – etwa beiderseits des Eisernen Vorhangs – stellen zwei Kapitel ausführlich dar. Das Buch ergeht sich also nicht in chronologischen Schilderungen von Ereignissen.
Deutlich wird, dass sich die Wege nicht erst nach der »Urkatastrophe« trennten, sondern schon im 19. Jahrhundert, als unter den Tschechen wie anderorts in Europa die Idee einer sich auf die Sprache gründenden Nation immer mehr Zulauf bekam und das Haus Habsburg – anders als für Ungarn – kein adäquates Konzept für Böhmen fand. Das Geschichtsbuch schildert diese Entwicklungen vom Mittelalter bis zum Jahre 2004 mit dem Fokus Neuzeit. Die heiklen Themen, wie die Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei oder der österreichische Opfer-Mythos, werden ebenso in den Blick genommen wie beiderseitige Stereotype, die unausrottbar scheinen. Etwa wenn ein österreichischer Bürgermeister die Einladung in die von Hussiten gegründete tschechische Stadt Tabor/Tábor mit der Begründung ablehnt, sein Ort sei 600 Jahre zuvor von den Hussiten in Schutt und Asche gelegt worden.
Das Buch soll eine breite Öffentlichkeit erreichen. Zuweilen jedoch verharren die Texte im wissenschaftlichen Duktus. Das mag der einzige kleine Makel sein. Für Herbst 2019 ist eine tschechische Übersetzung und didaktisches Material für den Schulunterricht beider Länder geplant.
(Ralf Pasch, Rezension in der Kulturkorrespondenz östliches Europa #1404 | Juni 2019, S. 20)
Wolfgang Bahr: Wenzel und Michel schreiben ein Buch
Das lang ersehnte österreichisch-tschechische Geschichtsbuch ist endlich erschienen. Es könnte zu dieser Thematik eine Grundlage für Generationen werden.
Wer zu diesem Buch greift, braucht starke Arme, aber auch inhaltlich hat es Gewicht. Noch nie sind die österreichisch-tschechischen Beziehungen so umfassend, umsichtig und vor allem durchgehend bilateral dargestellt worden. Denn sämtliche Beiträge wurden jeweils von Angehörigen beider Nationalitäten verfasst, und es lässt sich höchstens erahnen, welcher Satz von österreichischer und welcher von tschechischer Seite stammt.
Zu Konflikten bezüglich der Sichtweisen sei es sehr wohl gekommen, zu Zerwürfnissen aber nicht, so der erstgenannte Herausgeber Niklas Perzi bei der Präsentation des Buches in St. Pölten. Was die Schreibenden der historischen Zunft zusammengehalten hat, war die seit dem Ende der kommunistischen Indoktrinierung und dem Verblassen nationalistischer Erzählungen gemeinsame Methode. Eine vermeintlich unantastbare Tatsachengeschichte ist heute nicht mehr vertretbar, und nicht nur die Fakten, sondern auch deren Interpretationen werden bewusst in Frage gestellt.
Am deutlichsten wird dies bei der Vertreibung der Sudetendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Zu fragen sei, wann die Darstellung ansetzt, wie sie die Teilaspekte gewichtet und in welchen zeitgenössischen Horizont sie hineingestellt ist. Während die Tschechen Jahrhunderte zurückgreifen und ihre 1918 endlich errungene Emanzipation durch das Dritte Reich bedroht sehen, blenden die Deutschen die vielfach mit ihrer Billigung geschehene Knebelung der tschechischen Landsleute von 1939 bis 1945 gern aus und sehen sich schon seit 1918 nur als Opfer.
Beneš und Temelín
Symbol dieses Dilemmas ist Edvard Beneš, für die einen der Deutschenhasser schlechthin, für die anderen der Repräsentant eines modernen demokratischen Staates, dessen Stabilität durch die Ausweisung der Deutschen nach so vielen Niederlagen ein für alle Mal gesichert werden soll. Brandgefährlich wird die Sache, wenn sie mit anderen, ebenfalls hochexplosiven Materien verbunden wird, etwa mit der Errichtung und dem Betrieb von Atomkraftwerken. Und natürlich ist es von größter Bedeutung, wer die Argumente wann vorbringt – etwa wenn Jörg Haiders FPÖ die Beneš-Dekrete mit Tschechiens EU-Beitritt junktimiert.
Einer der zahllosen bedenkenswerten Sätze des Buches, hier in Walter Reichels und Václav Petrboks Analyse von „Stereotypen und Narrativen in der tschechisch-österreichischen Wahrnehmung“, kommentiert das so: „Das bisherige Desinteresse der österreichischen Öffentlichkeit an der tschechoslowakischen Nachkriegsgeschichte führte in weiterer Folge zur unreflektierten Übernahme des sudetendeutschen Narrativs, das wiederum durch auflagenstarke Massenmedien weite Verbreitung fand.“ Die Aufarbeitung der vielen „Stunden da wir nichts voneinander wussten“ (um einen Stücktitel Peter Handkes aufzugreifen) ist ein zentrales Anliegen des Buches. Ein Jahrzehnt hat es gebraucht, bis die Idee realisiert werden konnte. Zwei Landesausstellungen in Nieder- und Oberösterreich hatten die Öffentlichkeit für die Thematik sensibilisiert, doch lagen deren Schwerpunkte dann doch wieder in Österreich und dienten nicht zuletzt der Profilierung der Landesfürsten. Das jetzt vorliegende Sammelwerk hingegen verdankt sich stärker Impulsen von unten.
Die Historiker beider Länder waren schon seit der Wende (und ansatzweise bereits vorher) vernetzt, und Vorarbeiten waren insbesondere in den Grenzregionen geleistet worden, nicht zuletzt mit Hilfe der Oral History, die nicht bloß subjektive Erinnerungen aufzeichnet, sondern auch strukturierte Gespräche mit Interventionen der Fragesteller. Die Errichtung und der Abbau des Eisernen Vorhangs erscheinen so nicht nur als punktuelle Ereignisse, sondern sind eingebettet in das sich wandelnde Alltagsleben diesseits und jenseits der Grenze.
Spannende Details sind dabei zu erfahren – wie die Besiedlung der bis dahin deutschen Gebiete auch durch Slowaken aus Rumänien sowie Griechen, die vor der Hellenischen Revolution von 1946 bis 1949 geflohen waren, oder das Aufleben der Katholischen Jugend an der hermetisch abgeriegelten Grenze im Wald- und Weinviertel. Und nicht nur die Sozial-, auch die Wirtschaftsgeschichte der österreichischen Grenzregionen hat seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein bemerkenswertes Auf und Ab erlebt.
Die tschechische Version des Buches soll ebenfalls noch heuer erscheinen, und an der exzellenten Bebilderung darf sich dann nach dem deutschen Michel auch der tschechische Wenzel ergötzen. Ein Buch aus der „Bibliothek der Provinz“ in Weitra, gedruckt in der Europäischen Union: manchmal sagt auch das Impressum etwas über den Inhalt aus.
(Wolfgang Bahr, Rezension in der Furche #27/19 vom 4. Juli 2019, S. 10)
Gudula Walterskirchen: Eiserner Vorhang: Tod, Vertreibung – und Versöhnung
30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wird die österreichisch-tschechische Geschichte erstmals gemeinsam aufgearbeitet – in einem kritischen Geschichtsbuch namens „Nachbarn“.
Es war zwei Wochen vor Weihnachten, am 15. Dezember 1949. An diesem Tag versuchte Marian Frankic, jugoslawischer Staatsbürger, über die tschechoslowakische Staatsgrenze nach Österreich zu gelangen. Doch er wurde von einer Streife der Grenzwache bei Artholz (Artolec) bei Neubistritz ertappt und erschossen.
Der erste Tote an einer Eiserner Grenze
Er war der erste Tote an der Grenze zwischen der kommunistischen Tschechoslowakei und dem freien Österreich, am „Eisernen Vorhang“. Bis zum Ende der kommunistischen Diktatur und dem damit einhergehenden Abbau des Grenzzaunes und der Bewachungsanlagen sollten noch weitere 128 Menschen bei Fluchtversuchen in den Westen den Tod finden. Was weniger bekannt ist: Auch Hunderte Soldaten des tschechoslowakischen Grenzschutzes, meist junge Burschen, starben durch Unfälle in den Sperranlagen oder durch Selbstmord, weil sie die Situation nicht mehr ertrugen.
Details wie diese und die wechselvolle, spannungsgeladene Geschichte der beiden Länder zeichnet ein neues Buch nach: „Nachbarn – ein österreichisch-tschechisches Geschichtsbuch“. Herausgegeben und geschrieben wurde es erstmals von Historikern beider Länder gemeinsam. Federführend dabei war Niklas Perzi vom Zentrum für Migrationsforschung in St. Pölten, ein Waldviertler, der seine publizistische Laufbahn als Mitarbeiter der NÖN begann.
Ab 1945 und dann Jahrzehnte lang lag Niederösterreich gewissermaßen am Ende der Welt, zumindest am Ende der freien Welt, und das war für die Bewohner und Besucher deutlich sicht- und spürbar. In Zeiten der Monarchie war dies anders, Böhmen und Mähren waren ein Teil des Reiches, die Beziehungen sehr intensiv, Grenzen gab es keine. Doch auch in dieser Zeit war das Verhältnis nicht spannungsfrei, die Tschechen fühlten sich als unterprivilegiert, auch gegenüber den Ungarn, die ab 1867 in der nunmehrigen Doppelmonarchie einen Sonderstatus erhielten.
Von intensiven Beziehungen bis zu umstrittenen Dekreten
Dieses Gefühl der geringen Wertschätzung führte letztlich auch zu den Konflikten nach dem Ende der Monarchie und nach dem Zweiten Weltkrieg. Die deutschsprachige Minderheit, die Sudetendeutschen, setzte mehrheitlich ihre Hoffnungen auf Hitler-Deutschland – und büßte dafür schrecklich nach dem Krieg: zweieinhalb Millionen Sudetendeutsche wurden enteignet, zwangsweise ausgesiedelt, vertrieben. Nur 250.000 verblieben in der Tschechoslowakei, diese wurden oft in andere Gebiete umgesiedelt.
Die sogenannten „Benes-Dekrete“ bildeten künftig den Kernpunkt des Konfliktes zwischen den Nachbarländern und polarisierten am stärksten. Während in Österreich im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus auch die Rolle der Sudetendeutschen differenzierter betrachtet wurde, war die Vertreibung bis vor kurzem in Tschechien immer noch ein Tabu. Erst eine jüngere Historikergeneration, die auch am genannten Buch mitwirkte, begann mit einer kritischen Aufarbeitung der eigenen Seite.
So gesehen ist dies Neuland und ein Beginn einer echten Versöhnung und eines Neuanfangs – 70 Jahre nach den Ereignissen und 15 Jahre nach dem Beitritt Tschechiens zur EU. (…)
(Gudula Walterskirchen, Rezension in der NÖN vom 3. Juli 2019)
https://www.noen.at/niederoesterreich/gesellschaft/geschichtsbuch-eiserner-vorhang-tod-vertreibung-und-versoehnung-niederoesterreich-eiserner-vorhang-buchvorstellung-153166275#
Gerald Schubert: Eine Geschichte, zwei Perspektiven
Der Bogen spannt sich von den böhmischen und österreichischen Ländern im Mittelalter bis zum Fall des Eisernen Vorhangs 1989 und der aktuellen Mitgliedschaft beider Staaten in der Europäischen Union
Was lange währt, wird endlich gut: wahre Worte von Emil Brix, dem Direktor der Diplomatischen Akademie Wien, bei der Präsentation des 400-Seiten-Schmökers „Nachbarn“ Anfang dieser Woche. Von der Komplexität des Werkes, die auch dessen fast zehnjährige Entstehungsgeschichte erklärt, gibt schon der Zusatztitel eine Ahnung: „Ein österreichisch-tschechisches Geschichtsbuch“.
Hier wurden nicht einzelne Beiträge jeweils verschiedener Historikerinnen und Historiker aus zwei Staaten aneinandergereiht, wie es in unzähligen Konferenzbänden ohnehin gängige Praxis ist. Der Anspruch war ein völlig anderer: An jedem Kapitel sollten Fachleute aus beiden Ländern direkt zusammenarbeiten. Motto: eine gemeinsame Geschichte, zwei Narrative, ein gemeinsamer Text.
Diese Herangehensweise merkt man den fein gesponnenen Analysen auch an. Unterschiedliche Schwerpunktsetzungen ergänzen einander ebenso wie das profunde Wissen um Stereotype im jeweils eigenen Land. Nur wer diese kennt, kann sie auch sicher umschiffen – oder eben gleich direkt zum Thema machen.
Der Bogen spannt sich von den böhmischen und österreichischen Ländern im Mittelalter bis zum Fall des Eisernen Vorhangs 1989 und der aktuellen Mitgliedschaft beider Staaten in der Europäischen Union. Klar, dass dabei den besonders sensiblen Perioden wie jener nach dem „Anschluss“ Österreichs an Hitlerdeutschland und der Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren sowie der späteren Vertreibung der deutschsprachigen Zivilbevölkerung aus der Tschechoslowakei besonders viel Augenmerk geschenkt wird.
Die umsichtige Gestaltung bezog sogar begleitende Gespräche mit der interessierten Öffentlichkeit ein. Heraus kam etwa das Kapitel über Kunst, das von Lesern in spe angeregt wurde. Das braucht eben Zeit. Jahrelang haben selbst Politiker auf bilateralen Besuchen auf das Buch verwiesen, das erst fertig werden musste. Das Warten hat sich gelohnt.
(Gerald Schubert, Rezension im Standard vom 27. Juni 2019)
https://www.derstandard.at/story/2000105563333/eine-geschichte-zwei-perspektiven
Niklas Perzi: [Rezension]
Eine Geschichte, zwei Deutungen – immer wieder ist dieser Satz zu hören, wenn über das Verhältnis zwischen Österreich und Tschechien diskutiert wird. Und wirklich: Beide Länder verbindet bis ins 20. Jahrhundert eine über weite Strecken gemeinsame Geschichte, die jedoch als Folge der Entstehung der modernen National-Gesellschaften unterschiedlich gesehen und interpretiert wird.
Nach dem Zerfall der Habsburger Monarchie standen sich in Mitteleuropa zwei Staaten gegenüber, deren Verhältnis von Konkurrenz, aber auch von Versuchen zur Kooperation geprägt war. In Wien wunderte man sich nach 1918 über den tschechischen Waffenbruder, mit dem man eben noch in der gemeinsamen Armee gekämpft hatte, der nun aber als Kriegs-Gewinner auftrat. In Prag hingegen betrachtete man Österreich als Überbleibsel der reaktionären Habsburger Monarchie und behandelte es mit einer Mischung aus Patronanz und Arroganz. Die Tschechoslowakei sah sich als Nationalstaat der Tschechoslowaken, umfasste jedoch in seinen Grenzen drei Millionen Deutsche und beinahe eine Million Ungarn, die ihm nicht angehören wollten. Österreich wiederum war ein von ökonomischen, sozialen und gesellschaftlichen Krisen gespaltenes Land auf der Suche nach einer Identität zwischen den beiden Polen „großdeutsch“ und „großösterreichisch“.
„Anschluss“ und Abpressung
Auch als bereits Adolf Hitler an die Türen klopfte, konnten sich die Regierungen nicht auf eine engere Kooperation einigen. Österreich wurde im März 1938, begleitet von Jubel, aber auch Terror und Verfolgung, an Hitler-Deutschland „angeschlossen“, die „Sudetengebiete“ wurden der Tschechoslowakei im September 1938 abgepresst, und aus dem Rest des Landes wurde nach der Abspaltung der Slowakei im März 1939 das „Protektorat Böhmen und Mähren“ errichtet. Okkupations- und Kriegszeit wurden völlig unterschiedlich erlebt: Die Österreicher wurden in die nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“ integriert, mussten bald Kriegsdienst leisten und verzeichneten zehntausende Gefallene, kamen aber wie die „Reichsdeutschen“ in den Genuss der Aufstiegschancen innerhalb des Systems. Dagegen oblag es den Tschechen, gleichsam als Bürger zweiter Klasse vor allem für den Fortgang der Rüstungsindustrie und Landwirtschaft im „Protektorat Böhmen und Mähren“ zu sorgen. Widerstand gegen das Regime wurde jedoch da wie dort streng geahndet, Juden und Roma wurden aus beiden Staaten vertrieben und ermordet.
Neubewertung und Kooperation
Dennoch profitierte nach 1945 das Verhältnis der Eliten beider Länder von der Symmetrie der Bilder: Das offizielle Österreich wie die CSR sahen sich als Opfer der nationalsozialistischen, deutschen Aggression. Die Idee einer vom „Deutschtum“ unabhängigen österreichischen Nation förderte die Neubewertung des tschechischen Bildes von Österreich. Auch in der Ablehnung der Sudetendeutschen war man sich in Prag und Wien weitgehend einig. Die Erfahrungen mit dem Kommunismus führten in der tschechischen Öffentlichkeit in Folge zu einer weiteren positiven Bewertung Österreichs, verstärkt nochmals durch die Aufnahme der Flüchtlinge nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ 1968/1969. Zusammenfassend stellte der tschechische Staatspräsident Václav Havel in einer Rede an der Universität Wien 1993 fest: „Wir hätten es so haben können wie Österreich“. Umgekehrt aber war die Tschechoslowakei gerade in den 1970er-Jahren in Österreich zu einer „terra incognita“ geworden, die am ehesten noch als umweltverschmutzende „graue Maus“ wahrgenommen wurde. Nach der großen Euphorie der Grenzöffnung 1989 prägten vor allem symbolisch hoch aufgeladene, konfliktbehaftete Themen wie Temelín oder die „Beneš-Dekrete“ die politischen Diskussionen zwischen Prag und Wien sowie die vermittelte Wahrnehmung vom jeweils anderen. Erst in den vergangenen Jahren ist die Kooperation anstelle der Konfrontation getreten und manifestiert sich seither in zahlreichen grenzüberschreitenden Projekten, aber auch umfassenden wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Kontakten.
Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Die soeben erschienene Publikation „Nachbarn. Ein österreichisch-tschechisches Geschichtsbuch“ wurde in vierjähriger Arbeit von 27 Historikerinnen und Historikern aus Österreich und Tschechien erstellt. Dabei handelt es sich nicht um zwei einander gegenübergestellte Nationalgeschichten, sondern um eng verflochtene Darstellungen der wichtigsten gemeinsamen und unterschiedlichen Entwicklungen. Die jeweils von einem österreichisch-tschechischen Autorenpaar gemeinsam verfassten Kapitel beginnen durchwegs mit dem Leben in der Monarchie und enden mit dem Beitritt beider Staaten zur Europäischen Union. Neben den chronikal aufgebauten Kapiteln sind auch die Themen Kultur, Narrative und Stereotypen sowie das für Niederösterreich besonders spannende Leben an der Grenze in Längsschnitten enthalten. Das Projekt wurde auf österreichischer Seite durch das Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres, das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung, die Bundesländer Niederösterreich, Oberösterreich und Wien sowie den Zukunftsfonds der Republik Österreich gefördert. Auf tschechischer Seite traten ebenfalls Ministerien und Kreise als Unterstützer auf. Das 412 Seiten starke, großformatige Buch ist im Verlag Bibliothek der Provinz erschienen und um 34 Euro erhältlich. Eine idente tschechische Ausgabe ist in Vorbereitung.
(Niklas Perzi, Perspektiven – Journal für Kultur, Wirtschaft und Tourismus, № 2 | Sommer 2019, S. 28 f.)
Peter R. König: [Rezension]
In der Präsentationsform verfährt vorliegender Band komparatistisch, parallelisierend; in Chronologie wechseln einander die durch politische Zäsuren trennbaren historischen Etappen gegenständlicher Staaten ab. Eine solche Synthese allein leistet bereits Verbindendes. Diese Bande neu, aktuell einsichtig zu machen, erscheint als dem bilateralen Wissenschaftsteam ein notwendiges Anliegen. Dabei befördert die reiche Bebilderung des Fließtextes (bei Perspektivenwechsel durch Ko-Autoren) die aufgelockert mühelose Einsichtigkeit, einem Lehrbuch ähnlich.
Der im Umfang spärliche Schlussteil verfährt synoptisch; eine Gesamtschau, die Bewertungen durch Stereotype und Narrative bietet, ohne diese als solche zu bewerten. Unschwer lassen sich in der Verlaufsstruktur zweierlei Stränge nachzeichnen: zum einen „[g]roße Unterschiede“, zum anderen „verblüffende Ähnlichkeiten“ (S. 95) bei den beiden Staaten.
Zu ersteren gehören ungleiche sozialpsychologische Ausgangsbedingungen (vgl. S. 96); nach 1918 ist Österreich ein ‚Verliererstaat‘, die CSR ein ‚Siegerstaat‘, und, indem nach wie vor multiethnisch, ein „echter Erbfolger der Monarchie“ (S. 90). Was die nächsten Jahrzehnte folgt, sind „zwei unterschiedliche Wege der Sozialdemokratie und ihrer Beziehung zum Kommunismus“ (S. 211), die bei „durchaus Ähnlichkeiten in der Wirtschaftsgebarung“ (S. 218), der Priorität der verstaatlichten Industrie, eine „nahezu konträre Entwicklung“ zeitigt: in der CSSR „den Absturz von einer prosperierenden Demokratie der Zwischenkriegszeit in die Gruppe der Länder der ‚Zweiten Welt‘“ (S. 238).
„Innere Sowjetisierung“ hier, „Amerikanisierung“ (S. 243) dort: Stellt für die CSSR „die kaum passierbare und streng bewachte Grenze […] eine[n] der Grundpfeiler seiner Normalisierungspolitik“ (S. 290) dar, bietet sie sich für Österreich geradezu als „Systemgrenze“, ja als ein „Identifikationsmerkmal“ (S. 344) an. Zur Charakterisierung der prekären Lebensumstände in der CSSR wird hier durch die unorthodoxe, die Sache weitaus treffendere Anwendung von damals gängigen Alltagsbegriffen mit bitterer Ironie nicht gespart: So etwa, wenn der „politische Veränderungswille“ fataler Weise „‚Mangelware‘“ (S. 262) bleibt, oder durch personelle ‚Säuberungen‘ Menschen auf „Plätze“ gelangen, „die zwar unter den normalisierten, wohl kaum aber unter normalen Umständen eine steile Karriere hätten machen können“ (S. 272).
Mit 1989/90 stehen nach Ansicht des Teams für die CSSR mehr die Brüche als die für Österreich geltenden Kontinuitäten der vorangegangenen Etappe gegenüber (vgl. S. 339); durch ‚Schengen‘ (2007) fallen dann „seit 1918 tatsächlich die Grenzbalken“ (S. 353) wieder. Summarisch kann die Liste der Parallelen bei den durchaus vergleichbaren Startbedingungen der beiden Staaten ansetzen, ähnlich auch ihr jeweiliges Scheitern beim „Aufbau eines gemeinsamen Staatsbewusstseins und Symbolsystems“ (S. 96). Im Kulturschaffen laufen Gemeinsamkeiten, trotz nationaler „Abgrenzungsversuche“, „vielfach Verwandtschaften und Anleihen“ (S. 139) fort. Beide, und als solche niemals erloschene Staaten machen die sogenannte ‚Okkupationstheorie‘ für sich geltend, die sie unter der Herrschaft des Dritten Reiches „bloß ihrer Handlungsfähigkeit beraubt“ (S. 212) habe.
Besonders gültig für die 60er-Jahre, werden die eine ‚Konvergenztheorie‘ (vgl. S. 252) stützenden Argumente vorgebracht: „beiderseits der Grenze“ sei es „zur Abschwächung der einst starken politischen Ideologien und zur Anwendung einer integrativen Sozialpolitik als Stabilisierungsinstrument“ (S. 266) gekommen. Brüsk abgebrochen allerdings nach Intervention der Sowjetunion 1968; wobei die „Zugehörigkeit zu den Machtblöcken“, wohlweislich beider Staaten, als „keine Frage der freien Wahl“ (S. 262) dargestellt wird. Der erwähnte synoptische Schlussteil will lediglich eine „Gegenüberstellung der unterschiedlichen Auslegungen, Deutungen und Lesarten der historischen Ereignisse“ (S. 372) bieten.
Als Interpretationshilfe wird darauf hingewiesen, dass die Tschechen als ‚Kleinvolk‘ traditionell es gewohnt, „einem größeren Herrschaftsbereich oder einem Staatenverband eingegliedert“ (S. 358) zu sein, erfahren in der Hintertreibung ihrer „Gleichberechtigungsforderungen“ (S. 370). Zitate zur Charakterisierung der Relationen zwischen der tschechischen und österreichischen Gemeinschaft wie: „missgünstige Vettern“ (Václav Havel; S. 356), „Streit unter Familienangehörigen“ (Barbara Coudenhove-Kalergi; S. 378) sowie „ein Volk mit zwei verschiedenen Sprachen“ (Ernst Viktor Zenker; S. 379) taugen zur abwägenden Beurteilung.
Eine beide Staaten umgreifende Zusammenfassung in Form einer Inventur von wechselseitig verfügten Beeinträchtigungen und im Resultat erlebten Benachteiligungen, hätte dem Sammelwerk nicht geschadet. Dennoch ist mithilfe vorliegender Darbietung beiderseitiges Wohlwollen und Befriedung zumindest zu stiften durch eine ausreichend positive Bilanz von Gemeinsamkeiten gelungen; weitere Schlussfolgerungen überlässt sie absichtsvoll der Leserschaft.
(Peter R. König, Rezension vom 17. Mai 2020, erschienen im Wissenschaftlichen Literaturanzeiger #59/1)
http://www.wla-online.de/katalogdetail/items/3411.html
David Sogel: [Rezension]
Zehn Jahre nach Gründung der „Ständigen Konferenz österreichischer und tschechischer Historiker zum gemeinsamen kulturellen Erbe“ (SKÖTH, in Tschechien SKČRH) erschien in Jahr 2019 eine Publikation – zunächst auf Deutsch, Anfang des Jahres 2020 dann auf Tschechisch –, die auf der Zusammenarbeit von insgesamt einundzwanzig Historikerinnen und Historikern aus Österreich und der Tschechischen Republik basiert. Das Buch trägt den Titel Nachbarn. Ein österreichisch-tschechisches Geschichtsbuch und wurde in Österreich im Wiener Verlag Bibliothek der Provinz (auf Tschechisch Sousedé. Česko-rakouské dějiny, NLN) unter der Leitung der HerausgeberInnen Niklas Perzi, Hildegard Schmoller, Ota Konrád und Václav Šmidrkal publiziert. Auf mehr als vierhundert Seiten erkundet das Buch verschiedene Stränge der tschechischen und österreichischen Geschichte vornehmlich des 19. und 20. Jahrhunderts. Ziel der AutorInnen war es, die politischen, kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Kontinuitäten und Diskontinuitäten in einer chronologischen und vor allem kontrastiven Perspektive zu beleuchten. Das Werk ist vor allem für ein Fachpublikum bestimmt, aber auch Laien wie etwa LehrerInnen, StudentInnen und Geschichtsinteressierte werden den kenntnisreichen Einblick in die komplizierten historischen österreichisch-tschechischen Beziehungen unbedingt zu schätzen wissen. Parallel zum Buch wurden für didaktische Zwecke ergänzende Materialien für den Schulunterricht veröffentlicht (S. 16). Anders als bei anderen wissenschaftlichen Publikationen entschieden sich die AutorInnen dafür, vom übermäßigen Gebrauch von Fußnoten zugunsten der Aufrechterhaltung des Leseflusses abzusehen. Ebenso fehlt ein Anhang mit einem Überblick über die verwendeten primären und sekundären Quellen. Dieser Umstand könnte insbesondere von PädagogInnen und StudentInnen, die sich mit den beschriebenen Themen näher beschäftigen wollen, als negativ empfunden werden. Durch das Ortsregister wird die Orientierung in diesem umfangreichen Werk nicht sehr erleichtert, es mag jedoch für an Regionalgeschichte Interessierte nützlich sein. Ich persönlich würde auch mit Rücksicht auf die Mannigfaltigkeit der in den Texten enthaltenen Themen ein Sachregister bevorzugen.
Das Buch besteht aus dreizehn eigenständigen Einheiten, die von tschechischen und österreichischen AutorInnen gemeinsam verfasst wurden. Diese nicht nummerierten Kapitel sind thematisch und chronologisch geordnet und knüpfen im Großen und Ganzen an die Begriffe Nation und Staat an, wie sie in der Einleitung definiert werden (S. 11–13). Die AutorInnen sind sich laut eigener Darstellung der Problematik der Verwendung dieser Begriffe bewusst, die mit Blick auf die Staatsgebilde des 20. Jahrhunderts unterschiedlich verstanden werden und unterschiedliche Konnotationen haben können und gehen deshalb bei den Vergleichen von einer territorialen Auffassung von Staat und Nation aus (S. 12). Den Begriff Nation verstehen sie nicht als eine stabile Kategorie, denn vor 1918 gab es so etwas wie eine österreichische Nation noch nicht, im tschechischen Kontext wiederum handelt es sich um eine rein mit Sprache und historischem Gebiet verbundene Kategorie. Mit Verweis auf diesen Umstand wird in diesem Werk die Geschichte der heutigen Slowakei, Ungarn u. a. nicht herausgearbeitet, obwohl sie für eine gewisse Zeit zu einem der Staatsgebilde gehörten (S. 12).
Schon beim flüchtigen Durchblättern fällt die große Menge an Bildmaterial auf, das sowohl, was die grafische Verarbeitung, als auch die historische Relevanz und Gesamtkonzeption betrifft, im Vergleich mit ähnlichen Publikationen dieses Genres außergewöhnlich ist. Die AutorInnen präsentieren so nicht nur die wichtigsten Personen und Orte, sondern fangen vor allem das Erscheinungsbild des beschriebenen geschichtlichen Zeitraums ein. Zu den beigefügten Bildern gehören auch zeitgenössische Karten in Form von kleineren fotografischen Reproduktionen. Auf der einen Seite ist dies sicherlich nützlich als eine der Öffentlichkeit zugänglich gemachte Primärquelle, auf der anderen Seite sind gerade die publizierten Karten ein Minuspunkt im Bildmaterial. Die Legenden sind auf diesen Karten schwer zu lesen oder tauchen überhaupt nicht auf (S. 48, 88, 91, 124 u. a.). Der Erörterung selbst wären im Gegenteil übersichtlich gestaltete zeitgenössische historische Karten zuträglich, die einen Einblick in die gegebene Problematik geben würden. Sie könnten die Orientierung erleichtern, sowohl in Bezug auf die Orte, als auch auf Ereignisse, die Städte, Infrastrukturen, Wirtschaft, Migration, unklare Grenzen, Flächenentwicklungen oder die Zusammensetzung der Bevölkerung betreffen.
Die einzelnen Kapitel sind klar konzeptuell gestaltet. Nach einer begleitenden, grafisch gestalteten Seite enthalten sie eine allgemeine Einführung, die oftmals in komparativer Perspektive die Mentalitätsentwicklung der Bevölkerung fokussiert (so beschäftigen sich etwa R. Kučera und R. Hufschmied auf Seite 67 mit der Loyalitätskrise gegenüber der Monarchie während des Ersten Weltkriegs). Nach diesem Einblick folgt entweder direkt die Einleitung (S. 167–169) oder schon ein konkretes Unterkapitel ohne vorhergehende allgemeine Einführung (z. B. S. 266). Die meisten Kapitel schließen mit einem Resümee ab. Eine Ausnahme bilden die Abschnitte zur Kulturgeschichte (z. B. S. 355–379), bei welchen eine Zusammenfassung sehr kompliziert und vereinfachend wäre, ähnlich ist es bei den Kapiteln zum Leben an der Grenze (Leben an der Grenze – Leben mit der Grenze I., II.) von N. Perzi, D. Kovařík und S. Kreissler. Die Autoren sind bei diesen Abschnitten (S. 123–135, S. 327–353) innovativ vorgegangen. Um die Kontinuität der Entwicklung in diesem Bereich darzustellen und hervorzuheben, gaben sie den Kapiteln die gleichen Titel und unterschieden sie nur in der Nummerierung, zudem verfassten sie für sie keine Einleitungen oder Resümees. Der Leser wird so besser in die Problematik einbezogen und erhält einen Raum für eigene Interpretationen.
Neben dem Erzählfluss des Haupttextes, der historischen Etappen folgt (z. B. die Weltkriege, die sogenannte Normalisierung, der Kalte Krieg), enthält das Buch eine beträchtliche Anzahl an grafisch abgesetzten Texten zu verschiedenen Einzelaspekten. Diese eingefügten Schlagwörter mit Erläuterungstexten erweitern nicht nur die zentrale narrative Linie, sondern beschreiben auch regional spezifische Themen, etwa biografische Skizzen der Herrscher (S. 26, 27, 31), Annäherungen an einzelne Ereignisse (S. 108), Angelegenheiten der österreichisch-tschechischen Beziehungen (S. 117–118), weniger bekannte Persönlichkeiten (S. 176) oder Skizzen zu Kultur (S. 147), Raum (S. 105) und bedeutenden historischen Rechtsdokumenten (S. 230–231). Gerade diese vom Umfang her sehr unterschiedlichen Einheiten haben einen großen Anteil an der Qualität des Buches. Das Einzige, was ihnen meiner Ansicht nach fehlt, ist eine ergänzende Sekundärliteratur, die nur in Ausnahmefällen unter den Texten angeführt ist (S. 80). Als Beispiel kann ich einen von H. Haas und S. Kříženecká geschriebenen Text mit dem Titel Libussa anführen, der zum Abschnitt Mit vereinten Künsten gehört und kurz und prägnant die mythische Figur der Libussa (Libuše) in beiden Kulturen am Beispiel des Werkes von Franz Grillparzer darstellt (S. 153). Nicht nur fehlen in diesem Artikel eher kürzeren Umfangs Angaben zu Sekundärliteratur, etwa das Buch Německá píseň o české Libuši (Ein deutsches Lied von der tschechischen Libussa) von Ladislav Futtera (Příbram, Scholares, 2015), sondern auch ein wörtliches Zitat im Text verbleibt ohne Beleg.
Die Sekundärliteratur steht in diesem Buch allgemein eher im Hintergrund. Jedes Kapitel schließt mit einer Liste von weiterführender Literatur, jedoch ist gerade diese „weitere“ Literatur im Vergleich zum thematischen Reichtum des Buches vielerorts eher schmal, gerade, wenn man bedenkt, dass die AutorInnen tschechische, österreichische und andere, vor allem englischsprachige, Publikationen unterbringen wollten. Die zitierten Arbeiten sind oftmals von zu allgemeinem Charakter. Die Liste an Sekundärliteratur in den Einleitungskapiteln halte ich für zu knapp und nicht ausreichend (z. B. S. 33).
Inhaltlich ist die Publikation wirklich eindrucksvoll. In fast allen Kapiteln gelang es, auf relativ kleinem Raum die Mentalitäts-, Kultur-, Gesellschafts-, Wirtschafts- und Politikgeschichte sowie oftmals auch die Geschichte des Raums und der Urbanität, der Migration, des Antisemitismus u. a. zu umreißen. Die Vergleiche sind sorgfältig ausgearbeitet, die AutorInnen versuchen insbesondere weniger bekannte Konsequenzen und Grenzfälle aufzuzeigen, die äußeren Aspekte der tschechisch-österreichischen historischen Berührungs- und Konfliktpunkte sind klar umrissen. Zur Beschreibung von Kontinuitäten schlagen die AutorInnen mitunter den Bogen bis in die Gegenwart. Als Beispiel sei die Karikatur der HauptteilnehmerInnen an den ersten direkten tschechischen Präsidentschaftswahlen angeführt (S. 374) sowie die Diskussionen über Österreich als angeblich erstes Opfer von Hitler (S. 310–312). An diesen und an vielen anderen Stellen treten die AutorInnen sachlich, aktuell und ohne Pathos oder politische Überfrachtung an die Problematik heran. Die aktuellen Schilderungen enthalten auch Verweise auf Filme, die dem Leser zu einem umfassenden Verständnis des Sachverhaltes verhelfen sollen. Zum Schluss möchte ich noch hervorheben, dass die AutorInnen auf die Zweisprachigkeit geachtet haben, die sicherlich die österreichisch-tschechische, beziehungsweise deutsch-tschechische geschichtliche Verbundenheit unterstreichen soll. Diese erreichten die AutorInnen dadurch, dass alle tschechischen Ortsnamen zunächst auf Deutsch und daneben auch auf Tschechisch zu lesen sind. So wurde das Ziel, die historische sprachliche Verbundenheit aufzuzeigen, auf konsequente und gelungene Art verfolgt.
(David Sogel, Rezension am Website von Institut pro studium literatury / Institut für Literaturforschung, veröffentlicht am 12. Februar 2020, Übersetzung: Lena Dorn)