
Amsel im Kopf
Erzählung
Anita Lehner
ISBN: 978-3-99126-100-1
19,5×13 cm, 72 Seiten, Hardcover
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Kurzbeschreibung
In der Nacht hat es geregnet, aber als Odd vor das Haus tritt, scheint wieder die Sonne. Die Wassertropfen im Gras leuchten. Heute fühlt sich der Morgen wie nach einem Bad im Schaff an. Im Pastorenbirnbaum, der im Garten zwischen dem Haus und Maries Hof wächst, sitzt eine Amsel. Sie schnattert und gurgelt und von überall im Garten antworten die Vögel. Ihr gelber Schnabel zeigt einmal in die eine Richtung und einmal in die andere Richtung. Ab und zu reckt sie ihren Hals. Eine andere Amsel fliegt zu ihr und sie lässt sich von ihrem Zweig fallen und fliegt auf einen Ast darunter …
Rezensionen
Anton Distelberger: [Rezension]Jakob wird von seiner Mutter vielleicht nicht ganz zufällig immer nur „Odd“ gerufen. Seltsam sind die Umstände seiner Geburt in der Tat. Als gerade ein Topf mit Kutteln auf dem Herd steht, fällt er ins Leben hinein - aufgefangen von den rußigen Händen seiner Mutter. Diesen verdankt er in Wahrheit zwar keineswegs seine etwas dunklere Hautfarbe, doch die Geschichte wird so erzählt, wie sie dem kleinen Jakob offenbar zuerst mitgeteilt worden ist. Die Kutteln spielen im kleinbäuerlichen Haushalt der Alleinerzieherin eine wesentliche kulinarische Rolle als billiges Essen. Außerdem Milch von der Ziege, Hühnereier und als besonderer Leckerbissen die Krallen geschlachteter Hühner in der Suppe. Das gleichaltrige Mädchen vom stattlichen Bauernhof, der sich auf der anderen Seite der trennenden Abzäunung erstreckt, kennt und schätzt dagegen andere Speisen: Schnitzel und Mohnnudeln mit Apfelmus. Diese Bauerntochter bringt die Warze an Odds Finger mit dem Saft von Schöllkraut zum Verschwinden. Sie kommen sich näher, obwohl er vor ihrer Familie gewarnt wird: „Das sind Lutheraner!“ Die Warnung stammt vom Messner, seinem väterlichen Freund, der nicht nur die Mutter uneigennützig in ihrem harten Existenzkampf unterstützt, sondern auch ihn unter die Fittiche nimmt. Sogar vor der Entführung durch einen Landstreicher hat der Messner ihn retten können. Erst am Ende wird sich herausstellen, dass Jakobs leiblicher Vater ein fahrender Musikant war, der auf Nimmerwiedersehen verschwunden ist. War es etwa jener freche Vagabund, der ihn so trickreich auf seinen Wagen gelockt hat und mit ihm schon auf- und davonfahren wollte?
Anita Lehners klare und ausdrucksstarke Sprache bringt uns zum Staunen über die Fülle und den Reichtum jener Welt, in der Odd seine ersten Jahre verbringt. Eine faszinierende Welt aus intensiven Sinneseindrücken und tiefen Empfindungen. Menschen stehen im Mittelpunkt dieser Welt, die nach heutigen materiellen und ökonomischen Maßstäben als bitterarm zu gelten hätten und denen höchstens unser Mitleid zuteil werden sollte. Und doch wie unglaublich wohlhabend an Glückmomenten waren diese Menschen gleichzeitig! Der kalte und stark gesüßte Kaffee schmeckt den Frauen bei ihrer Mittagspause von der Feldarbeit. Das Kälbchen kann gerettet werden und zur Welt kommen, weil Odd um den Tierarzt gelaufen ist, als ginge es um sein eigenes Leben. Das Fieber erzeugt Männchen, die über die Bettdecke laufen und ihn erschrecken. Auf der Ofenbank, wo ihn seine Mutter während seiner Krankheit gebettet hat, ist es warm. Die Schürze, die das Nachbarmädchen über seinem Kleid trägt, besitzt wegstehende Rüschen an den Schultern, die Odd an die Flügel eines Engels erinnern. Das große und mächtige Pferd des Metzgers, das der kleine Bub am Zügel hält, nimmt mit warmen und sanften Lippen vorsichtig eine Brotrinde aus seiner Hand entgegen. Anita Lehner lässt uns eintauchen in eine vergangene Erfahrungswelt, die sie kompetent und einfühlsam zum Leben erweckt.
(Rezension: Toni Distelberger)