Nichts zu sehen?
Stalag XVII B Krems-Gneixendorf – eine topografische Vermessung
Karin Böhm, Edith Blaschitz
ISBN: 978-3-99126-207-7
22,5×24,5 cm, 144 Seiten, zahlr. farb. Abb., Hardcover
€ 24,00 €
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Kurzbeschreibung
Nahe der zur Stadt Krems gehörenden Ortschaft Gneixendorf befand sich im Zweiten Weltkrieg das größte Kriegsgefangenenlager auf dem Gebiet des heutigen Österreich: das Stalag XVII B Krems-Gneixendorf. Zeitweise waren hier mehr als 60.000 Kriegsgefangene unterschiedlicher Nationalitäten interniert. Davon ist heute fast nichts mehr zu sehen. Ein Flugplatz mit Restaurant, querende Straßen, Wälder, Wiesen und Äcker nehmen den Platz ein. Im verwachsenen Gelände in der Nähe des Flugplatzes sind noch Fundamentreste der Baracken des Militärpersonals und weiter östlich ein massiv gebauter Wasserspeicher erhalten. Auf die Geschichte des Ortes verweisen Stahltafeln einer Kunstinstallation und verwitterte Gedenksteine.
Zweieinhalb Jahre lang suchte die Fotografin und Bildjournalistin Karin Böhm das unweit ihres Wohnortes gelegene, etwa ein Quadratkilometer große Areal immer wieder mit ihrer Kamera auf. Bei ihren Routen ließ sie sich auf eine, durch Interesse, Wissen und Intuition gelenkte, Entdeckungsreise des Zufalls ein. Aus der beharrlichen Auseinandersetzung mit dem Ort entstand eine fotografische Betrachtung und Vermessung. Karin Böhm fand Relikte aus der Vergangenheit, der Verwilderung preisgegebene Natur sowie gegenwärtige Nutzungen und verortete diese mittels Geokoordinaten.
Parallel dazu recherchierte die Historikerin und Kulturwissenschafterin Edith Blaschitz im Rahmen des Forschungsprojektes „NS-‚Volksgemeinschaft‘ und Lager im Zentralraum Niederösterreich. Geschichte – Transformation – Erinnerung“ historische Quellen zum Stalag XVII B.
Diese Forschung brachte neue Erkenntnisse zu französischen Kriegsgefangenen, der größten nationalen Gefangenengruppe, und zu bislang wenig beachteten belgischen, italienischen, serbischen und spanischen Gefangenen. Die Perspektive der Internierten, deren Kontakte zur lokalen Bevölkerung und der Umgang mit der Erinnerung an das Lager standen im Fokus der Forschungen, die auch Interviews und Kontakte mit den wenigen noch lebenden Zeitzeug*innen sowie Nachkommen von Kriegsgefangenen, des Lagerpersonals und Bewohner*innen der umliegenden Ortschaften beinhalten.
Karin Böhm verwebt ihre Bestandsaufnahme des gegenwärtigen Ortes mit den recherchierten historischen Dokumenten und aktuellen Reaktionen – Fotografien, Zeichnungen, Briefe, E-Mails, Interviews, Tagebucheinträge, Landkarten und Akten – zu einem dichten Bild-Text-Ensemble. Vier Kapitel, die mit Zitaten und persönlichen Notizen beginnen, widmen sich den Kriegsgefangenen, deren Arbeitseinsatz, dem Lagerpersonal und der Spurensuche der Nachkommen. Aktuelle sowie historische Bilder und Texte treten miteinander in Dialog und eröffnen neue Ebenen des Betrachtens. Die Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart wird nicht nur in den fotografisch festgehaltenen Spuren des historischen Ortes sichtbar, sondern auch in den Abbildungen der historischen Dokumente, die mit der ‚Spur‘ des Gegenwärtigen versehen sind – das vergilbte Foto in den Händen seines Besitzers, der Tisch im Archiv.
Immer wieder fragen Karin Böhm und Edith Blaschitz nach der Verbindung eines heute scheinbar ‚leeren‘ Ortes, der in der Erinnerung vieler Familien weltweit verankert ist, mit der Vergangenheit. Sie reflektieren gemeinsam die evozierten Bedeutungen vor dem Hintergrund der historischen Gegebenheiten. Die Zusammenstellungen werden, wenn nötig, angepasst.
Karin Böhms Fotografien benötigen manchmal einen zweiten Blick, damit sich Details erschließen, und ein scheinbar idyllisches Bild bricht. Ausgewählte Aspekte des komplexen künstlerischen „Bild-Text-Mosaiks“ analysiert die Kunsthistorikerin und Bildwissenschafterin Viola Rühse im abschließenden Essay, wobei ihre Aufmerksamkeit vor allem den aktuellen Fotografien gilt.
[Karin Böhm · Edith Blaschitz |
Mit einem Essay von Viola Rühse]
Rezensionen
[Web] Universität für Weiterbildung Krems: Das vergessene Lager – Stalag XVII B Krems-GneixendorfEin neues Fotobuch thematisiert die Geschichte und Gegenwart des ehemaligen Kriegsgefangenenlagers Stalag XVII B Krems-Gneixendorf
Das Stalag XVII B Krems-Gneixendorf war während des Zweiten Weltkrieges das größte Kriegsgefangenenlager auf heute österreichischem Gebiet. Trotz seiner Bedeutung erinnert heute nur noch wenig an das Lager. Im Rahmen eines Forschungsprojekts der Universität für Weiterbildung Krems wurden die Geschichte, die schwierige erinnerungskulturelle Auseinandersetzung sowie die Gegenwart des Ortes nun wissenschaftlich und künstlerisch bearbeitet.
Über zwei Jahre lang hat die Fotokünstlerin Karin Böhm, M.A. das ehemalige Lagergelände aufgesucht und fotografiert. Parallel dazu recherchierte Ass.-Prof.in Mag.a Dr.in Edith Blaschitz, Leitung des Stabsbereichs Digital Memory Studies im Department für Kunst- und Kulturwissenschaften der Universität für Weiterbildung Krems, im Rahmen des Forschungsprojektes „NS-,Volksgemeinschaft‘ und Lager im Zentralraum Niederösterreich“, das gemeinsam mit dem Institut für jüdische Geschichte Österreichs durchgeführt wird, nach Spuren ehemaliger Zwangslager im Bezirk Krems. Das Kriegsgefangenenlager Stalag XVII B Krems-Gneixendorf nahm dabei eine zentrale Rolle ein.
Das immer noch präsente Lager
Historikerin Blaschitz hat vor allem zu bislang wenig beachteten Gruppen geforscht. Die größten nationalen Gruppen der Franzosen und Belgier waren noch kaum im Fokus der Forschung, ebenso wenig wie das Schicksal serbischen, italienischer und spanischer Gefangener. Da in Österreich kaum Archivgut erhalten ist, stammen viele historische Quellen von Nachkommen der Kriegsgefangenen, deren Erinnerungen im Familiengedächtnis weitergetragen werden. Böhm, Alumna der Universität für Weiterbildung Krems, hat die historischen Quellen mit ihrer fotografischen Spurensuche am heute teils überbauten, teils verwilderten Lagergelände verwoben.
Die Kontakte der „Ausgegrenzten“ im Lager zur lokalen Bevölkerung führten auch zu unerwarteten „kulturellen Transfers“: So entdeckte Dr.in Viola Rühse, M.A., Leiterin des Zentrums für Bildwissenschaften, dass ein dem Forschungsprojekt zur Verfügung gestelltes Portrait vom internierten Maler Anatola Soungouroff stammte. Der homosexuelle Künstler malte einen Soldaten im Lager in einer heute als eindeutig „queer“ zu wertenden Ästhetik – eine subversive Dekonstruktion „deutscher Männlichkeit“, die jahrzehntelang in der Familie des Soldaten aufbewahrt wurde.
Die Fülle an Bildern, Texten und Erzählungen im Buch „Nichts zu sehen? Stalag XVII B Krems-Gneixendorf – eine topografische Vermessung“ zeigt, dass auch Jahrzehnte nach den historischen Ereignissen, Erinnerungen an einen scheinbar „leeren“ Ort erhalten bleiben und sichtbar gemacht werden können. Präsentiert wird das Buch am 23. Mai 2024 um 19:00 Uhr an der Universität für Weiterbildung Krems mit einem Gespräch mit den Autorinnen, das von Gregor Kremser, PhD (Kulturamt Krems, erinnern.at) moderiert wird. Einleitende Worte sprechen PD Dr.in Martha Keil, Leitung Institut für Jüdische Geschichte Österreichs, und Dr.in Eva Maria Stöckler, Leitung Department für Kunst und Kulturwissenschaften.
(Ankündigung der Präsentationsveranstaltung von „Nichts zu sehen? Stalag XVII B Krems-Gneixendorf – eine topografische Vermessung“, online am Website der Universität für Weiterbildung Krems, Fakultät für Bildung, Kunst und Architektur, Department für Kunst- und Kulturwissenschaften, Digital Memory Studies veröffentlicht am 8. Mai 2024)
https://www.donau-uni.ac.at/de/universitaet/fakultaeten/bildung-kunst-architektur/departments/kunst-kulturwissenschaften/zentren/stabsbereich-digital-memory-studies/news-veranstaltungen/veranstaltungen/2024/das-vergessene-lager.html
Edith Krisch: [Rezension]
In einer Kombination aus aktuellen Fotografien und historischen Dokumenten präsentieren die Fotografin und Fotojournalistin Karin Böhm und die Historikerin und Kulturwissenschaftlerin Edith Blaschitz im Rahmen des Forschungsprojekts „NS-Volksgemeinschaft und Lager im Zentralraum Niederösterreich. Geschichte – Transformation – Erinnerung“ eine spannende Spurensuche in Vergangenheit und Gegenwart.
Durch die Verknüpfung zahlreicher, nur auf den ersten Blick idyllischer Fotografien mit den Koordinaten des ehemaligen Lagergeländes gelingt es Karin Böhm, den Leser:innen ein anschauliches Bild vom Gelände des größten Kriegsgefangenen- und Arbeitslagers des Dritten Reiches auf dem Gebiet des heutigen Österreich zu vermitteln. Mehr als 60.000 Menschen, darunter Amerikaner, Franzosen, Belgier, Italiener, Sowjetbürger und Serben, waren hier zeitweise inhaftiert und wurden dann – mit Ausnahme der amerikanischen Gefangenen – in nahegelegenen Lagern als Arbeitstrupps untergebracht, von wo aus sie an verschiedenen Arbeitsplätzen Zwangsarbeit leisten mussten. Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, dass die Häftlinge bei der einheimischen Bevölkerung Unterstützung fanden. Edith Blaschitz ist es im Laufe ihrer Forschungsarbeit gelungen, mit Hilfe der wenigen noch lebenden Zeitzeugen, der Nachkommen von Häftlingen und Lagerpersonal sowie der einheimischen Bevölkerung neue Erkenntnisse über die verschiedenen Opfergruppen und ihre Bewacher zu gewinnen. Die Zusammenschau der von den Autorinnen gewonnenen Erkenntnisse und der abschließende, sehr informative Essay der Kunsthistorikerin und Bildwissenschaftlerin Viola Rühse geben den Leser:innen nach Jahrzehnten des Schweigens einen Einblick in die Lebensbedingungen und Zukunftsperspektiven der Lagerinsassen.
Viola Rühse verweist in ihrem Essay auf historische Ereignisse und zeitgeschichtliche Aktivitäten der Katastralgemeinde Gneixendorf. So erwähnt sie den mehrwöchigen Aufenthalt Ludwig van Beethovens im Jahr 1826 und berichtet in diesem Zusammenhang über das jährlich stattfindende Musikfestival und die seit 2021 bestehende outdoor-Ausstellung. Im Besonderen geht die Expertin auf das gelungene „Bild-Text-Mosaik“ von Karin Böhm und Edith Blaschitz ein. Kritische Worte findet Viola Rühse zur Gneixendorfer Erinnerungskultur an die Zeit von 1939 bis 1945.
Die Publikation „Nichts zu sehen?“ ist ein Zeitdokument, das sich durch zahlreiche Fußnoten, ein umfangreiches Literaturverzeichnis sowie Bild- und Zitatnachweise auszeichnet. Stalag = Kriegsgefangenen-Mannschaftsstammlager bzw. Stammlager (im Gegensatz zu Oflag = Offizierslager). XVII bezeichnet den Wehrkreis (Wien, bestehend aus den damaligen Gauen Oberdonau, Niederdonau und Groß-Wien), B folgt aus der Chronologie der Gründung (A für Stalag XVII A Kaisersteinbruch) und zuletzt die Ortsbezeichnung Krems-Gneixendorf. Wehrkreis XVIII waren die Gaue Salzburg, Tirol, Kärnten und Steiermark.
(Edith Krisch, , Rezension in: Der Sozialdemokratische Kämpfer. Bund Sozialdemokratischer FreiheitskämpferInnen, Opfer des Faschismus und aktiver AntifaschistInnen, № 04-05-06/2024, S. 22)
http://www.freiheitskaempfer.at/wp-content/uploads/2024/06/Kaempfer-4_5_6_2024.pdf#page=22