
Der Ungeist der Stunde Null
Wie Österreich säte, was es heute hat
Hellmut Butterweck
ISBN: 978-3-99126-331-9
21,5×15 cm, 184 Seiten, fadengeheftetes Hardcover
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Kurzbeschreibung
Österreichs Politiker fanden nach der Befreiung kein Wort des Bedauerns über das Schicksal der Juden. Für Österreichs Leitartikler, deren Meinung damals die wichtigste Orientierungshilfe darstellte, hatte der Holocaust niemals stattgefunden. Daher konnte ihnen die – bis heute unbekannt gebliebene – sowjetische Sprachregelung, welche die Erwähnung der Juden als Opfer der deutschen Massenmorde untersagte, nur willkommen sein. So wurde die Chance vertan, aus dem Entsetzen über das Geschehene die Abwehrkräfte gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus hervorgehen zu lassen. Prof. Hellmut Butterweck belegt diesen Befund mit dem im Zuge einer akribischen Textanalyse gewonnenen Material.
Prof. Hellmut Butterweck, 1927 in Wien geboren, wurde in der NS-Zeit zum Regimegegner. Zur Arbeit in der deutschen Kriegsindustrie zwangsverpflichtet, wurde er der Sabotage verdächtigt, entzog sich dem Dienst in der deutschen Wehrmacht und wurde nach dem Krieg Journalist. Das langjährige Redaktionsmitglied der Wochenzeitung Die Furche schrieb Hörspiele, Theaterstücke sowie Bücher zu zeitgeschichtlichen und ökonomischen Themen. Seine historischen Bücher behandeln u.a. Österreichs Nachkriegsjustiz gegen NS-Straftäter und die Nürnberger Prozesse.
Ohne Übertreibung kann jetzt schon festgehalten werden, dass keine zeitgeschichtliche Arbeit über dieses monumentale Quellenwerk hinweggehen kann.
(Univ. Prof. DDr. Oliver Rathkolb zum Standardwerk
„Nationalsozialisten vor dem Volksgericht Wien“)
[edition SCIENCE · Verlag Bibliothek der Provinz]
Rezensionen
Günther Haller: Gewissen der NationLebenswerk. Hellmut Butterwecks Studie über Österreich in der unmittelbaren Nachkriegszeit.
Man kann sich vor dem Lebenswerk von Hellmut Butterweck (geboren 1927) nur verneigen. In der NS-Zeit Regimegegner, wurde er 1948 Journalist und schrieb für zahlreiche Medien Kritiken, Glossen und Essays, vor allem zeitgeschichtliche Beiträge. Lang war er für die Wochenzeitung „Die Furche“ für das Kulturressort zuständig. Seine bedeutenden Bücher verfasste er erst im hohen Alter. Wer sich mit der Zeit des Nationalsozialismus und der Zeit danach in Österreich beschäftigt, kommt nicht um sie herum. Sein Opus magnum über 800 Seiten schrieb er mit 88, „Nationalsozialisten vor dem Volksgericht Wien“. Akribisch wird verbucht, wie die junge Zweite Republik mit den Nazi-Verbrechern juristisch verfuhr. Mit der präzisen Darstellung zahlloser Einzelfälle entsteht hier ein Panorama des Schreckensregiments. Es steht im Widerspruch zu der Milde, mit der gegen die Täter verfahren wurde.
Das Buch besticht mit einer Fülle von Fakten, es gilt als Standardwerk zu dem Thema. Butterweck wirft darin durch seine genaue Kenntnis der Berichterstattung, der Prozessreportagen, auch einen kritischen Blick auf die öffentliche Debatte in jener Zeit. Nun hat er genau dazu eine Studie vorgelegt. Sie wurde kürzlich im Jüdischen Museum Wien vorgestellt. Einige prominente journalistische Meinungsmacher des Landes, von Anneliese Rohrer und Hans Rauscher über Florian Klenk bis zu „Furche“-Chefredakteurin Doris Hemberger-Fleckl, erwiesen Butterweck durch ihre Anwesenheit ihre Reverenz und diskutierten seine Thesen über den „Ungeist der Stunde Null“, also das Österreich der unmittelbaren Nachkriegszeit.
Kein heilsamer Schock
Das Ergebnis von Butterwecks Recherchen: Es gab in Österreich 1945 keinen heilsamen Schock über die unvorstellbaren Verbrechen an den Juden, weil die Nachricht darüber die Menschen nicht erreichte. Sie wurde mit voller Absicht zugunsten eines „phrasenhaften Geredes“, bei dem das Wort „Juden“ nicht vorkommen durfte, zurückgehalten. Schuld war eine verbindlich durchgezogene Sprachregelung in den einzigen Zeitungen, die damals im sowjetisch besetzten Landesteil erschienen sind. Sie hießen das „Neue Österreich“ und die „Österreichische Zeitung“ und hielten sich an die Vorgaben Stalins, der die heroische Opferrolle seines Volkes nicht geschmälert sehen wollte. Nicht die Juden, sondern die Sowjetunion hätte am meisten gelitten unter Hitler. Umfassende Informationen über den Holocaust erreichten die Welt erst am Beispiel des KZ Bergen-Belsen im September, „als es für den heilsamen Schock längst zu spät war“ (Butterweck).
Dass man in Österreich die fällige Auseinandersetzung mied und eine gewisse ostentative Gleichgültigkeit gegenüber dem jüdischen Schicksal an den Tag legte, war wiederum das Erbe des heimischen Antisemitismus. So wurde eine historische Chance vergeben, Abwehrkräfte zu entwickeln. Die Nachwirkungen sind bis heute merkbar. „Wie Österreich säte, was es heute hat“, ist der Untertitel des wichtigen Buchs.
(Günther Haller, Rezension in Die Presse vom 31. Mai 2025, S. 22)
Hans Rauscher: Das große Schweigen in der „Stunde Null“
Der Autor Hellmut Butterweck weist nach, wie Österreichs Politik und Journalismus in der Nachkriegszeit das Schicksal der Juden unterschlugen.
Der 1927 (!) geborene Wiener Journalist und Autor Hellmut Butterweck hat etliche Bücher, Theaterstücke und viele, viele Artikel über die Nazi-Zeit vorgelegt. Immer ging es dabei um den besonderen Umgang Österreichs mit seinen NS-Tätern, um unangebrachte Milde, um Verschweigen und Verdrängen. Nun legt Butterweck einen abschließenden (?) Band über das seltsame Schweigen der österreichischen Politik und vor allem auch des Journalismus der ersten Stunde nach der Befreiung vor: Das Schicksal der Juden blieb unerwähnt. Der Ungeist der Stunde Null. Wie Österreich säte, was es heute hat heißt der dicht dokumentierte Band. Schon in der am 27. April erschienenen Unabhängigkeitserklärung der Republik wird pathetisch mitgeteilt, dass Österreich an nichts schuld sei. Es ist die Rede von den hunderttausenden Gefallenen, aber keine Rede von den Ermordeten, schon gar nicht von den Juden (oder Sinti und Roma).
Beredtes Schweigen
Butterweck über dieses Gründungsdokument der Zweiten Republik: „Nach außen sollte die Unabhängigkeitserklärung Österreichs Status als befreites Land untermauern. Nach innen lautete ihre subkutane Botschaft: Und über die Juden schweigen wir erst recht, denn niemand hat etwas gewusst, niemand hat es gewollt und niemand kann etwas dafür. So sollten die Österreicher sich selber sehen, dieses Selbstbild sollten sie sich zu eigen machen“.
Ähnlich auch im Journalismus: Am 23. April erschien erstmals das Neue Österreich, die erste und fast einzige Zeitung, getragen von den drei Parteien. Chefredakteur war der Kommunist Ernst Fischer, der den Krieg im Moskauer Exil verbracht hatte, ständig bedroht von Stalins „Säuberungen“. Butterweck weist nun penibel nach, dass in dieser Zeitung, aber auch überhaupt, zwar das Schicksal der Opfer des Nationalsozialismus beschrieben wurde – aber so gut wie nie, dass der Großteil Juden waren.
Dabei konnte man schon am 25. April „einige der Schreckensvokabeln des 20. Jahrhunderts, Auschwitz, Majdanek, zum ersten Mal in einer österreichischen Zeitung lesen“. Es wurde die Millionenzahl der Opfer genannt, es wurde auch der genaue Ablauf der industriellen Vernichtung durch Gas in Majdanek geschildert. Aber: „Ihre jüdische Identität gesteht Fischer nur einem kleinen Teil von ihnen zu und erst dort, wo er sie mit dem Stereotyp des reichen Juden in Zusammenhang bringt. Sie seien nicht mit dem Viehwaggon, sondern mit der ersten Klasse in den Tod gefahren.“
Butterweck berichtet, dass schon am 6. Mai der erste seriöse Bericht über die Durchführung des Holocaust im Neuen Österreich erschien: „Die Hölle von Auschwitz“. Da werden auch die „sechs Millionen Opfer“ erwähnt, aber die Hauptopfer, die Juden, nur nebenbei.
Butterweck sagt, dass mit diesen Artikeln Österreichs Politiker und die wenigen in der Bundeshauptstadt wieder tätigen Journalisten über die Durchführung des Holocaust „ausführlich informiert“ hätten. Aber dass die Opfer überwiegend Juden waren, wurde verschleiert.
Warum? Butterweck führte dazu etwas an, das bisher nicht so allgemein bekannt war: Es gab eine Sprachregelung Stalins, das Schicksal der Juden herabzuspielen. Bei den Berichten über Massenerschießungen in Russland selbst war auch immer von „Sowjetmenschen“ die Rede. Stalin habe auch noch den „Holocaust arisiert“, schreibt Butterweck – und „Österreichs Politiker der Nachkriegszeit adoptierten das Tabu“. Damit seien die Voraussetzungen für ein Überleben des Antisemitismus geschaffen worden, ein „neuer Antisemitismus des Schweigens“.
Verdrängte Geschichte
Man kann aber auch auf Basis psychologischer Erkenntnisse der Ansicht sein, dass es gerade die Ungeheuerlichkeit der Geschehnisse war, die zu einem Verdrängungsprozess führte. Allerdings dauerte diese Verdrängung ziemlich lange, und Butterweck hat recht, wenn er schreibt, dass in Deutschland die Frankfurter Auschwitzprozesse stattfanden, während in Österreich ein Massenmörder wie Murer freigesprochen, Mörder begnadigt – und unter Kreisky die Verfolgung von Kriegsverbrechen stark zurückgefahren wurde.
(Hans Rauscher, Rezension im Der Standard-Feuilleton „Album“ vom 31. Mai 2025, S. A 4)
https://www.derstandard.at/story/3000000272093/das-gro223e-schweigen-in-der-stunde-null
Doris Helmberger-Fleckl: „Das habe ich anders erlebt“
Hellmut Butterweck ist 17 Jahre alt, als der Naziterror am 8. Mai 1945 endet. Wie empfindet er die Zeit danach? Und warum spricht er vom „Ungeist der Stunde Null“? Ein Museumsbesuch.
Die Zeit ist knapp bemessen an diesem regnerischen Freitag. Schon um 17 Uhr hat Hellmut Butterweck einen Friseurtermin – denn zwei Tage später, beim Festakt zur Wiedererrichtung der Republik Österreich am 27. April, soll er in der Hofburg als einer der letzten Zeitzeugen mit jungen Menschen ins Gespräch kommen. Der 97-Jährige ist also in Fahrt, als er durch die Drehtür in die Aula des neu gestalteten Wien Museum am Wiener Karlsplatz tritt. Er spannt den nassen Schirm ab, hebt kurz prüfend den Blick und lässt sich bereitwillig aus dem Mantel helfen. „Das fällt mir schon ein wenig schwer“, sagt er. Alles andere scheint ihm hingegen kaum Mühe zu machen. Am allerwenigsten scharfe, aber treffsichere Kritik.
Seit dem Jahr 1953 schreibt Hellmut Butterweck für diese Zeitung – viele Jahre davon ist er ihr Redakteur. Nun hat ihn DIE FURCHE eingeladen, gemeinsam die neue Sonderausstellung des Wien Museum zum heurigen Gedenkjahr zu besuchen: „Kontrollierte Freiheit. Die Alliierten in Wien.“
Abwehrkräfte gegen Antisemitismus?
Gerade eben hat Butterweck, Jahrgang 1927, dieser Zeit selbst ein Buch gewidmet – sein mittlerweile zehntes nach Standardwerken über das Wiener Volksgericht und die Nürnberger Prozesse. „Der Ungeist der Stunde Null. Wie Österreich säte, was es heute hat“ lautet der Titel seines neuen Opus, das am 22. Mai im Jüdischen Museum präsentiert werden wird. Was Butterweck mit seinem Buchtitel meint? Von der Befreiung Wiens durch die Rote Armee im April 1945 bis zum Eintreffen der Westalliierten am 9. August habe es im Osten Österreichs eine stalinistische Sprachregelung gegeben, wonach in den Gaskammern und bei den Massenmorden der Einsatzgruppen „sowjetische Kriegsgefangene, friedliche Sowjetmenschen und Antifaschisten aus ganz Europa“ ermordet worden wären – aber keine Juden.
Diese „Tabuisierung des Holocaust“ sei von den Leitartikelschreibern sowie von ÖVP und SPÖ „bereitwilligst“ und weit über den 9. August hinaus perpetuiert worden, so Butterweck; man habe sich „konsequent um jede Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus“ herumgedrückt und der Bevölkerung den industrialisierten Massenmord an Millionen Jüdinnen und Juden verschwiegen. Die Folge dieses sträflichen Versäumnisses, dieses „Ungeists der Stunde Null“? Zu schwach ausgebildete „Abwehrkräfte gegen den Antisemitismus“, schreibt Butterweck in seinem Buch – und damit auch zu schwache Abwehrkräfte gegen jede Art von rechtsextremem Gedankengut. Bis heute.
Der Besuch der Ausstellung wird für Hellmut Butterweck eine „emotionale Wiederbegegnung“ werden – mit seiner eigenen Jugendzeit wie auch mit einer Fülle an Plakaten und Zeitungen. Sehr vieles hat er ähnlich in Erinnerung, wie es die Kuratorinnen und Kuratoren der Ausstellung – Oliver Rathkolb, Elisabeth Heimann-Leitner und Anne Wanner – zum Ausdruck bringen. Einige der Texte an den Wänden findet er aber „wirklich daneben“.
Darunter gleich den Einführungstext zur Schau. „Das primäre Ziel der Alliierten war […] nicht die Internationalisierung der Wiener Kulturlandschaft. Die zahlreichen Aktivitäten sollten, neben dem wirtschaftlichen und politischen Wiederaufbau, mithelfen, eine emotionale Basis für das Entstehen eines Österreich-Bewusstseins zu schaffen – also die Ausbildung eines eigenen, von Deutschland unabhängigen Selbstverständnisses“, ist hier zu lesen. Hellmut Butterweck schüttelt den Kopf. „Ich weiß nicht, wem das eingefallen ist“, sagt er. „Das habe ich anders erlebt.“ Vor allem die Amerikaner, aber auch die Franzosen seien „echte Kulturbringer“ gewesen – nicht nur mit dem Ziel, ein Österreichbewusstsein zu schaffen.
Auch sei die Rede von „den Alliierten“ zu pauschal. Als Wien anfangs nur von den Russen besetzt gewesen sei, habe man noch nichts erfahren von der Welt. Erst die Amerikaner hätten Ende August bzw. Anfang September durch die Gründung des Wiener Kurier und durch amerikanische Filme, Literatur und Musik, aber auch durch Zugang zur jahrelang verpassten europäischen Kultur das „Fenster zur Welt weit aufgerissen“. Er selbst liest damals im amerikanischen Leseraum bei der Oper nicht nur George Orwell, sondern auch Stefan Zweig, Thomas Mann und Franz Werfel. „Die Amerikaner wollten Kultur bringen – Gott sei Dank. Aber dass sie so wesentlich mitgeholfen haben bei der Entstehung eines Österreichbewusstseins, das glaube ich nicht.“
Ein Rücktritt als versteckte Notiz
Im nächsten Raum zückt der 97-Jährige seine Handykamera. An der einen Wand ist die zerstörte Albertina zu sehen, an der anderen eine Reihe von Plakaten. „Daran erinnere ich mich noch gut“, sagt Butterweck, gibt seinen Gehstock ab – und macht ein paar Fotos. Wie restriktiv in der damaligen, streng durchorganisierten Parteienlandschaft die Kommunikationspolitik war, erklärt er anhand des Falls von Raoul Bumballa. Vor der Novemberwahl 1945 will der ÖVP-Staatssekretär im Innenministerium zurücktreten – und bleibt nur durch Intervention des provisorischen Staatskanzlers, Karl Renner (SPÖ), bis zur Wahl im Amt. Doch wie erfährt die Bevölkerung von diesem Fast-Rücktritt eines Regierungsmitglieds? Allein durch eine kurze Notiz im Neuen Volksblatt der ÖVP. „Zu den gestrigen Radiomeldungen in New York teilt uns Staatssekretär Bumballa mit, dass er in dieser Frage keine Erklärung abgegeben hat“, heißt es hier.
Die anderen zwei Parteizeitungen, die Arbeiter-Zeitung der SPÖ und die Volksstimme der Kommunisten, wissen auch nicht mehr zu berichten; ebenso wenig das bereits seit 23. April erscheinende Neue Österreich. Nur der Wiener Kurier, der seit 27. August von der amerikanischen Besatzungsmacht herausgegeben wird, lüftet zwei Tage später in einem Interview mit Bumballa die Gründe. „Einer war die Politisierung der Polizei, die ihm – zu Recht – nicht gepasst hat“, sagt Hellmut Butterweck. „Ein anderer war, dass er wollte, dass die ÖVP von ihrem antisemitischen Kurs abrückt und ein jüdisches Vorstandsmitglied aufnimmt. Doch dazu war sie nicht bereit.“
Größte Zukunftshoffnung? Strom und Gas
All das hat Hellmut Butterweck im Laufe intensiver Recherchen für sein Buch eruiert. Als 17-Jähriger des Jahres 1945 hat er freilich ganz andere Probleme. „Wenn man mich heute fragt, was unsere Zukunftshoffnung nach der Befreiung war, dann war das vor allem die Hoffnung, dass es im zweiten Bezirk wieder fließendes Wasser, elektrischen Strom, Gas und eine Straßenbahn gibt“, erzählt er. Dass der 8. Mai eine „Befreiung“ war – und kein „Zusammenbruch“, wie es die Nazis nannten –, war für ihn als Deserteur vollkommen klar. „Wenn sie mich erwischt hätten, wäre ich genauso gefährdet gewesen wie jeder untergetauchte Jud“, sagt Butterweck. „Durch und durch“ sei es ihm deshalb gegangen, als die russischen Panzer über die Taborstraße gekommen sind. „Das war meine Lebensrettung.“
Doch nach der Befreiung kommt der Hunger. Einem russischen Soldaten reißt der damals 17-Jährige eine Sardinenbüchse weg – und zeigt auf seinen knurrenden Magen. Angst vor dem Russen hat er nicht; nur eine Sekunde lang, als jemand schreit: „Die SS kommt zurück!“
Bei Frauen ist das mit der Angst vor den Russen anders. Gleich in den ersten Tagen nach der Befreiung klopft ein Offizier bei Butterweck an das Haustor und ein Dolmetscher erklärt, der Herr Oberst suche Damenbegleitung für die Nacht. „Er hat sich ganz fein ausgedrückt und nicht direkt gesagt: Ich suche eine Frau fürs Bett“, erzählt Butterweck. Nicht nur das gibt es damals in Wien, sondern auch Vergewaltigungen. Der Schriftsteller Karl Hans Heinz erzählt ihm davon, wie ein Offizier zwei Soldaten bei einer solchen Tat erwischt – und die beiden standrechtlich erschossen hat. Ob das Vorschrift oder nur ein Einzelfall war? „Wer weiß das schon“, sagt Butterweck.
„Die Vier im Jeep“ sind ein Klischee, aber das Klischee ist 1945 Alltag in ganz Wien. Die Zonengrenzen nimmt Butterweck damals nicht wahr, umso mehr jedoch die Filmplakate. „Die Todesmühlen“ ist eines davon. Erst kürzlich, für die Recherche zu seinem Buch, hat sich Butterweck den im Sommer 1945 gedrehten Film mehrfach angesehen. „Billy Wilder hat das Drehbuch geschrieben und war extra in Europa, um die deutsche Fassung zu überwachen“, erzählt Hellmut Butterweck. Der Film beweist, „dass die Amerikaner noch im Sommer 1945 keine Ahnung vom Holocaust hatten“. Stalins Sprachregelung habe erfolgreich dafür gesorgt, dass möglichst wenig Wissen darüber in den Westen gelangt. „Er wollte die Rolle des größten Opfers der Nazis nicht mit den Juden teilen“, sagt Butterweck.
Wir gehen weiter. „Im Gegensatz zur totalitären Medien- und Rundfunkpolitik im Nationalsozialismus setzten die Alliierten von Beginn an auf Medienvielfalt“, ist an der Wand zu lesen. Hellmut Butterweck atmet tief durch. Nur den Westalliierten sei diese Vielfalt ein Anliegen gewesen, stellt er klar. Nach dem Wiener Kurier der Amerikaner folgt am 18. September die Weltpresse der Briten – einen Tag nach dem Beginn des Bergen-Belsen-Prozesses. „In Belsen wurden Menschen gefressen“, ist am Titelblatt zu lesen, das Butterweck im Museum mit Beklemmung studiert. „Ich weiß noch, als ich damals auf der Mariahilferstraße mit einer Zeitung gestanden bin, wo erstmals alles über den Holocaust gestanden ist. Und meine erste Reaktion war: ,Ach, so haben sie es gemacht!‘“
„Tod durch den Strang“
Gleich daneben im Schaukasten hängt die erste Ausgabe der Welt am Abend der Franzosen vom 1. Oktober 1946. Am Cover wird in dicken Lettern das Urteil des Nürnberger Prozesses präsentiert. „Tod durch den Strang: Göring, Ribbentrop, Keitel, Kaltenbrunner, Rosenberger, Frank, Frick, Sauckel, Jodl, Seyß-Inquart und Streicher. Schirach, Speer 20 Jahre Gefängnis. Papen, Schacht und Fritsche entgehen der Bestrafung!“ Das Urteil liest Butterweck damals im Wiener Kurier, während er gerade auf dem Getreidemarkt steht. Auch diese Ausgabe entdeckt er in der Ausstellung. „An diese Titelzeile erinnere ich mich wirklich gut“, sagt er. Heute weiß er durch seine Recherchen freilich noch viel mehr. Zum Beispiel, dass es bei den Nürnberger Prozessen etliche Fehlurteile zugunsten der Angeklagten gab. „Schirach und Speer sind zu milde davongekommen“, sagt er.
Wir gehen weiter – und nähern uns dem Ende der Ausstellung. Es geht um „Schmutz und Schund“, um die „Rote Traumfabrik“ in den Rosenhügel-Studios mit dem Filmklassiker „Panzerkreuzer Potemkin“, um Boogie Woogie und natürlich um den Staatsvertrag. „Das war für mich aber nicht so ein Einschnitt“, meint Hellmut Butterweck schon ein wenig erschöpft. „Nachdem 1945 für mich ja die Rettung des Lebens war, haben mich die Alliierten nicht so sehr gestört.“
Draußen, beim Eingang der Schau, kann sich der 97-Jährige endlich setzen. „Es war ein wirklich guter Nachmittag“, lautet sein Resümee vor seinem Abschied, hinaus in den Regen. Was wäre heute, als Zeitzeuge, seine Botschaft an junge Menschen? Hellmut Butterweck denkt nach – und wird dasselbe sagen wie zwei Tage später in der Hofburg: dass die Jungen bei Wahlen für liberale Demokratie, Rechtsstaat und Meinungsfreiheit votieren mögen; und dass sie um Gottes Willen nicht den rechten Rattenfängern erliegen sollten. Auch wenn Parteienstreit und Unfähigkeit sie so stören wie ihn selbst.
(Doris Helmberger-Fleckl, Die Furche, 8. Mai 2025, S. 4 f.)
https://www.furche.at/feuilleton/zeitgeschichte/mit-hellmut-butterweck-im-wien-museum-ich-habe-es-anders-erlebt-15833460