Helen
Mediterrane Botschaften · Roman
Klaus Voswinckel
ISBN: 978-3-85252-312-5
21,5×15 cm, 228 Seiten, m. Abb., Hardcover m. Schutzumschl.
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Kurzbeschreibung
Helen – das ist die Geschichte einer Frau, eines Ortes am Mittelmeer und eines heute halb verdrängten, vielleicht aber um so ersehnteren Konzepts von Leben. Es ist die Geschichte der Künstlerin Helen Ashbee, die nebenher eine ganze Odyssee durch unser Jahrhundert enthält, von England über Jerusalem, Salzburg, New York und den Pariser Montparnasse nach Italien. Und zugleich ist es die Erzählung von einem geheimen Zentrum am Rande der Welt, einer Masseria im äußersten Süden von Apulien.
Dort lebt Helene seit 1968 mit Arno Mandello, dem Freund von Man Ray, Pablo Picasso, Joseph Roth und vielen anderen (auch er hat eine Jahrhundertgeschichte der Emigration und der Länderwechsel hinter sich). Die »Republika Bufalaria« wird zum magischen Ort der Lebensentwürfe, der ungewöhnlichen Begegnungen und Utopien.
Klaus Voswinckel taucht in diese Welt hinein, er erzählt sie aus dem Inneren der Landschaft, die auf alle Details mit einwirkt, und entdeckt Schritt für Schritt das Phantastische im Realen wieder – als gäbe es nichts Verrückteres und Wunderbareres als das Leben selbst, zumindest hier, bei Helen.
Das Biographische, auch das Autobiographische wird zum Roman. Und die mediterranen Botschaften stecken in den Labyrinth-Kurven der Geschichten: sanft, komisch, anrührend, voll Gleichzeitigkeit von Scheitern und Gelingen. Wer sie hört, (abseits vom Imponiergehabe der Macht), wird seine eigenen Wünsche in ihnen finden.
AM MEER REDEN WIR ANDERS
Das erste Mal habe ich Helen in Paris gesehen. Das war auf dem Boulevard Montparnasse, Ecke Rue Delambre. Sie trat in den Terrassenvorbau der Coupole ein und steuerte auf unseren Tisch zu, gefolgt von Arno mit seiner schwarzen Seemannsmütze. Hätte ich sie damals nicht getroffen, säße ich jetzt nicht im Zug nach Süditalien. »Biglietti prego …« Der Schaffner zieht die Tür auf und beugt sich ins Abteil. Ein Labyrinth von Leben, möchte ich ihm sagen, aber er ist schon weiter. Ohne Helen hätte es nie solche Schwünge und wilden Kurven bekommen. Ich möchte von Heien erzählen, von Helen und Arno, und von der Bufalaria … Nacht hinter Verona. Die Schatten von Häusern fliegen vorbei. Ab und zu eine angeleuchtete Kirche, die in der Ebene aufragt. Das Meer, in Erwartung, riecht schon salzig.
Um zu Helen zu gelangen, muß ich über ein Feld gehen. Ein schmaler Pfad führt da, kaum hat man die Macchia hinter sich gelassen, zwischen Grasbüscheln und aus dem Boden wachsenden Steinen hindurch, und sowie man einen Schritt zur Seite tritt, landet man entweder sofort im Acker oder stolpert über eine unvorhergesehene Felskante, sinkt, besonders nach einem Regen, wenn die Erde zum Ertrinken weich geworden ist, entweder in die Tiefe ein oder kippt zur Seite hinüber, weil es eine mondlose Nacht ist. Wie viele Male fand ich mich auf diesem Feld am Boden wieder. Es scheint mein ureigenstes Sturzfeld zu sein, das Feld zwischen Helen und mir, und sooft ich auch glaubte, mich in jeder seiner Schrägen und Verkantungen auszukennen, so vollkommen regelmäßig wurde ich auf ihm zu Fall gebracht und strauchelte, sackte, rutschte und fiel, fluchte über meine Unkenntnis – jetzt, einen Schritt nach rechts, immer geradeaus. Stimmt das?
Helen: »… mon départ cauchemaresque de Munich, car il n'y avait pas de taxi, sauf à Rotkreuzplatz, et finalement arrivee à la gare à peine à temps je trouve le train n'existe que samedi et dimanche. Ainsi j'ai du attendre le prochain …«
(… mein alptraumhafter Aufbruch aus München, weil es nirgends ein Taxi gab, außer am Rotkreuzplatz, und als ich schließlich noch gerade rechtzeitig am Bahnhof ankam, stellt sich heraus, daß der Zug nur am Sonnabend und Sonntag fährt. Also hab ich auf den nächsten warten müssen …)
Als wir das erste Mal zu Helen und Arno nach Apulien gefahren sind, mit dem Auto, durch die heiße Ebene von Foggia hindurch, immer einer schmalen, nur manchmal einen Knick machenden Asphaltstraße folgend, die in der Luft vor uns flimmerte, hatte ich das Gefühl, wir führen nach Griechenland. Die Orte am Horizont schimmerten weiß – selbst der Gargano, der wie ein Schattengebirge zum Meer hin ansteigend vorüberzog, war gesäumt von solchen weißen Muschelnestern, und je weiter wir über Bari hinaus in das Innere des Salento kamen, desto mehr verloren sich alle toskanischen Eindrücke aus den Augen, und ich begann dir von Griechenland zu erzählen, wo ich vier Jahre vorher gewesen war.
Du saßt am Steuer, mit deinem leicht nach oben verrutschten Rock und windverklebten Haaren, durstig nach Wasser und einer Dusche, und ich erzählte dir von den Dörfern auf Naxos und auf dem südlichen Peleponnes, kam immer mehr ins Schwärmen über die Ähnlichkeiten, die ich um mich fand, und erwartete jeden Moment griechische Buchstaben auf den Häusern. Manche waren im Näherkommen nicht weiß, sondern rosa und hellblau gekalkt, sie schoben sich in Kuben ineinander und verbanden sich mit ihren Kuppeln und Bögen, ab und zu ragte eine Palme über den Dächern auf, und die Männer am Straßenrand, alle in Schwarz und Dunkelgrau gekleidet, mit schwarzen Hüten oder Schirmmützen, die mit ihren Köpfen schon verwachsen schienen, sahen uns unverwandt im Zentrum ihrer Ortschaften die Orientierung verlieren: Manchmal hoben sie halb die Hand zu einem Lächeln, wenn wir sie aus dem Fenster gelehnt nach dem Weg fragten, und sie deuteten nach links, wenn sie von einer kommenden Abzweigung nach rechts sprachen, vertauschten hartnäckig und fast schon gesetzmäßig Rechts und Links, als sei ihre Sprache hier in ein spiegelbildliches Verhältnis zu ihren Gesten geraten. Sie schienen sich auch nicht zu wundern, wenn wir nach einer halben Stunde aus der umgekehrten Richtung wieder zurückkehrten, im Gegenteil, jetzt waren wir schon ein Bestandteil ihres Tageslaufs geworden …
Rezensionen
Lutz Hagestedt: Atemhaus für HelenKlaus Voswinckel hat erneut ein Apulien-Buch geschrieben
Im Mittelpunkt steht Helen, von der es heißt, daß sie dem Leben des Erzählers einen besonderen Akzent gegeben habe, „Schwünge und wilde Kurven“. Man hat sich in Paris kennengelernt und ist jetzt Kommunarde auf einer ehemaligen Meierei in Apulien, Süditalien, jetzt Künstlerkolonie, Société, fixe Idee. Hier ist der „Schreibort“ des Erzählers, hier hat Helen ihr Atelier, hier baut sie ihre Skulpturen oder gießt heiße, flüssige Metalle in gewachste Formen.
Helen hat sich in ihrer Pariser Zeit für die Kunst entschieden; lernte Giacometti kennen und durfte sich mit ihm über die eigenen Bilder unterhalten; mit fünfzig hat sie ein zweites Leben in Apulien begonnen. Ein ungesundes Leben, man ahnt schon bald, daß es um Helen nicht gut steht: „Sie lebt nur noch von Campari und Zigaretten… / Sie verbrennt sich in einer unglaublichen Langsamkeit… / Sie lebt… Mit einer in sich verbrennenden Lunge.“ Dieser Typ Frau also. Der Erzähler setzt sich hin und schreibt ihr ein „Atemhaus“. Was hier einerseits pathetisch klingt, andererseits nüchtern so dahingesprochen ist, gibt dem Roman bereits eine Lebensverlustperspektive vor. „L'Écriture du désastre“ heißt es in Anspielung auf Maurice Blanchot. Aber selbst wenn Voswinckels Roman kein „Ort der Beruhigung“ ist, sondern eher ein Ort existentieller Durchgänge, ja Bedrohungen, so liest er sich doch wie eine Übung in Kontemplation.
(Lutz Hagestedt, Rezension für literaturkritik.de, veröffentlicht am 1. November 1999)
https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=555