Notizen zur Abschaffung der politischen Parteien | Note sur la suppression générale des partis politiques
Simone Weil, Willibald Feinig
ISBN: 978-3-99126-113-1
18,5×13 cm, 64 Seiten, Klappenbroschur | Text dt. & französ.
€ 10,00 €
Neuerscheinung
In den Warenkorb
Leseprobe (PDF)
Kurzbeschreibung
[Hrsg., übers. u. mit e. Vorw. von Willibald Feinig] (Willibald Feinig)
«Eine politische Partei dient der Erzeugung kollektiver Leidenschaft. Eine politische Partei ist so organisiert, dass sie kollektiven Druck auf das Denken jedes einzelnen Menschen ausübt, der ihr angehört. Erstes und genau genommen einziges Ziel jeder politischen Partei ist ihr eigenes – unbegrenztes – Wachstum. Wegen dieser drei Charakteristika ist jede Partei im Keim und ihrem Anspruch nach totalitär. Ist sie es de facto nicht, so nur, weil für die Konkurrenten das Gleiche gilt wie für sie.»
Simone Weil, Intellektuelle mit jüdischen Wurzeln, für die die Trennung von Hand- und Kopfarbeit, Mystik und Politik ein Sakrileg, genauer ein Unding war diagnostiziert als Todeskrankheit der Demokratien – von den Diktaturen aller Art zu schweigen – den Geist der Parteilichkeit.
Personalisierung von Sachfragen und Servilität seien die Hauptcharakteristika dieses zur Gewohnheit gewordenen Unwesens. Entsprechend sorgfältig vermeidet der Traktat sowohl unsachliches «Ich» wie vereinnahmendes «Wir». Er geht von Rousseaus Contrat social aus und von der Revolution, die sich auf diesen klärenden Traktat berief: 1789 sei eben nicht das Werk von Parteisoldaten gewesen, sondern die Frucht verantworteter Meinungsäußerung. Wirksam und bleibend an der Französischen Revolution sind für Simone Weil Geist und Praxis der Cahiers de doléances, in denen die Bürger des Landes, Gemeinde um Gemeinde, ihre das Gemeinwohl betreffenden Beschwerden und Wünsche festhielten.
Geringfügige Abweichungen vom Weilschen Original wollen das Verständnis außerhalb Frankreichs erleichtern.
Sie werden durch Anmerkungen erläutert.
Die Publikation enthält auch den Originaltext – für Herausgeber und Verlag eine der Selbstverständlichkeiten, ohne die ein gemeinsames Europa keine Zukunft hat.
Die politischen Parteien abschaffen?!
Simone Weils Besinnung auf die Fundamente der Demokratie: Neuübersetzung bereits in zweiter Auflage
„Wie soll das gehen, ein Parlament ohne Parteien?“: Der Widerspruch war zu erwarten und ist wohl auch von der Autorin der Abhandlung mit dem so provokanten wie vorläufigen Titel „Notizen zur Abschaffung der politischen Parteien“ erwartet worden. Nicht zu erwarten war, dass die zweisprachige Neuausgabe von Simone Weils im Untergrund und Exil geschriebener Analyse der vor Hitler kapitulierenden französischen Demokratie nach ein paar Monaten vergriffen ist und 2023 in zweiter Auflage erscheint.
Für die Denkerin (1909–1943) ist das gewohnte Parteienwesen Resultat und Ausdruck der Unfähigkeit, auseinanderzuhalten, was ein (öffentliches) Gut ist – Gerechtigkeit und Wahrheit – , und was höchstens ein Mittel ist – die Macht etwa.
Parteien entbinden den Einzelnen von der Verpflichtung zu denken. Sie würden Information und das Ringen um Verbündete durch Erregung politischer Leidenschaften ersetzen und de facto die Mitwirkung aller an der res publica verunmöglichen.
Weils Diagnose, im digitalen Zeitalter aktueller denn je, fordert zum Weiterdenken heraus. Bei der Buchpräsentation warf z.B. Marianne Gronemeyer („Die Macht der Bedürfnisse“) ein, dass die von Simone Weil (und Rousseau) betonte Leidenschaftslosigkeit im Politischen nicht Kompromiss um jeden Preis bedeute; auch das Aushalten des Dissenses, das Wartenkönnen sei notwendig und heilsam bei etwas so Komplexem wie dem Gemeinwohl.
Der Germanist Jürgen Thaler merkte wiederum an, dass der herausfordernde Ton des Weilschen Denkens (ähnlich wie bei Walter Benjamin) geradezu nach einem Platz für den Denker und die Denkerin in der Zeitgenossenschaft schreie.
Inmitten von Not und Gefahr gibt Simone Weil dem politischen Engagement neue Würde – aber einem nachdenklichen Engagement, das sich der Wahrheit stellt.
Rezensionen
Willibald Feinig: Ohne Parteien geht es nicht?Es war ein langes Telefonat. Auf Empfehlung hatte ich Erwin Mohr, den Wolfurter Ex-Bürgermeister und Delegierten zu europäischen Räten, eingeladen, an einer Buchpräsentation am Spielboden teilzunehmen. Titel des Büchleins: „Notizen zur Abschaffung der politischen Parteien“. Autorin: Die französische, nirgendwo einzuordnende Denkerin Simone Weil, 1909–1943. Der provokante Text entstand im Untergrund: Die Philosophielehrerin aus bürgerlichem Haus – sie hatte, um das Leben von Arbeiter:innen kennenzulernen, ein Jahr in einer Fabrik gearbeitet – war erschrocken über die Hilflosigkeit der Demokratie, über die Kapitulation Frankreichs gegenüber dem Nationalsozialismus.
Der Traktat läuft darauf hinaus, dass man die Bildung politischer Parteien und jede Art von blindem Gehorsam und emotionaler Parteilichkeit in der Politik und im öffentlichen Leben gesetzlich verbieten soll. Gedanken, so herausfordernd für mich, dass ich sie neu übersetzt habe.
Auch der erfahrene und nach wie vor aktive Politiker i. R. hatte den Text verschlungen. Aber, bei allem Verständnis für die Kritik an Parteien – nach Ibiza, dem Sturm aufs Washingtoner Kapitol, angesichts von Personenkult, Propaganda und Korruption, für die er sich schäme – er habe schwere Bedenken: Wie soll das gehen, eine Demokratie ohne Parteien? Schon auf der niedrigsten, der Gemeinde-Ebene, und bei den einfachsten Fragen, sobald verschiedene Interessen im Spiel sind: Auch wenn man Fall um Fall abstimmt, wenn man Personen wählt statt Parteien – sofort würden die Mächtigeren, Redegewandten, Reichen die anderen auf ihre Seite ziehen, Clans würden an die Macht kommen, das wäre noch schlimmer als Parteien, die sich wenigstens ungefähr an ihr Programm halten müssten…
Solche und viele ähnliche Einwände liegen nahe. Schließlich ist es ein wichtiges und hart erkämpftes Recht, sich zusammenzuschließen mit anderen, die gleiche oder ähnliche Probleme oder Ziele haben. Und über die jedermann sichtbaren Schäden, das das demokratische Parteiwesen anrichten, tröstet man sich mit dem Churchillwort hinweg: „Die Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen, ausgenommen alle anderen.“ Oder durch Nicht-Wählen: Auf den gegenwärtigen französischen Staatspräsidenten entfiel etwa ein Drittel der Stimmen der Wahlberechtigten.
Sind Parteien wirklich unumgänglich? – Simone Weil sagt: Nein. Sie ist jung (im englischen Exil) gestorben, auch aus Enttäuschung, weil ihre konkreten Ideen und Gedanken zum Neuanfang Frankreichs und Europas nach dem NS-Grauen kein Gehör fanden. Nein – gegen jeden Augenschein, denn auch achtzig Jahre später bestimmen Parteien die Politik, und die Gesinnung der Parteilichkeit prägt die Gesellschaft inklusive Kunst und Religion bis hinein in die Schulaufsätze, ja sie feiert gerade in den Untiefen des Internet wenig fröhliche Urständ.
Ihre Argumente: Unsere Parteien gibt es noch gar nicht so lange, sie haben unter dem Druck der französischen Revolution Gestalt angenommen. Was diese Revolution an grundlegend Neuem gebracht hat, verdanken wir nicht Parteien, im Gegenteil. Die aufwändige, meist vergessene Prozedur der Befragung und des Austausches, der Sammlung der Beschwerden noch der ärmsten Gemeinde des Landes, die von ihren Abgeordneten 1789 nach Versailles und Paris gebracht wurde, sie ist es, die Frankreich – und die Welt – nachhaltig verändert hat. Und der berühmte „Contrat social“ Rousseaus, auf den sich schon die Revolutionäre bezogen, ist keine Glorifizierung der Demokratie, wie sie die Orbans, Trumps, Kaczynskis, Erdogans oder Bolsonaros heute weltweit in Zweifel ziehen – von den Diktatoren zu schweigen. Vielmehr klärt die Schrift die Bedingungen, unter denen die republikanische Staatsform am ehesten für Wahrheit und Gerechtigkeit aller sorgen kann.
Damit gemeinsame Entscheide zum Wohl der Allgemeinheit in Wort und Tat zustande kommen können, so Weil, müssen nämlich
· die Emotionen zurückgedrängt werden (statt angestachelt wie in den Wahlkämpfen);
· Sachen zur Debatte stehen – nicht Personen; Personalisierung in der Politik (und überhaupt) ist Flucht vor Verantwortung und Nachdenken.
· Ideen und Fähigkeiten Einzelner, die der Allgemeinheit nützen, müssen auf eine neue Art gefördert werden. (Jemand mit politischer Begabung darf nicht darauf angewiesen sein, sich einer Partei anzuschließen, mit deren Programm er höchstens zum Teil übereinstimmt.)
· Ohne Zirkel und Kreise, ohne Medien, in denen diese Ideen ausgeprochen und diskutiert werden, kann es keine nützliche Politik geben. (Zeitungsprojekte wie „marie“ hätten Simone Weil sehr entsprochen, denke ich; die Verwüstung der Medienlandschaft trotz oder wegen leicht zugänglichem und (noch) billigem Internet hätte sie alarmiert.) Dass aus solchen losen poltischen Zirkeln „Bewegungen“, geschlossene Gruppen, letztlich Parteien mit Abstimmungszwang werden, gehöre gesetzlich verboten.
· „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“ (Ingeborg Bachmann) – und sie ist ein und dieselbe für alle, wenn auch oft nicht oder nur zum Teil klar oder von „Leidenschaften verdeckt“ (Weil). Einzig der Wahrheit und Gerechtigkeit darf ein:e politisch Tätige:r verpflichtet sein – nicht der Parteiräson, das heißt, dem Machterhalt und der Machtvermehrung.
Hellsichtige Gedanken, aus der Sorge um die Demokratie entsprungen. Simone Weil hat sie vor ihrem Tod 1943 im Hauptwerk „Die Einwurzelung“ (L’enracinement) und auch in anderen Appellen wiederholt und ergänzt. Z.B. pocht sie auf die Trennung von Gesetzgebung, Regierung und Justiz, die beide überprüft – ein Unterschied, der auch in Europa weitgehend zur Farce, zur Partei-Sache geworden ist. Es ist hoch an der Zeit, sich den Gedanken dieser Prophetin zu stellen.
(Willibald Feinig in: marie. Die Vorarlberger Straßenzeitung, Ausg. September [?] 2022)
Walter L. Buder: Vom Ungeist der Parteilichkeit und der Abschaffung der Parteien
Zum Autor, Journalisten, Kritiker, Herausgeber, Prosaiker, Essayist und Lyriker (in französischer und deutscher Sprache) – gesellt sich nun auch der Übersetzer Willibald Feinig (geb. 1953). Er hat sich Simone Weils „Notizen zur Abschaffung der politischen Parteien“ aus den 1940er-Jahren gewidmet. In Form eines 63-Seiten-Paperbacks (Satz und Gestaltung von Laurenz Feinig, Grafische Praxis, Feldkirch) ist der schmale Band im Verlag Bibliothek der Provinz als zweisprachige Ausgabe jüngst erschienen.
Das französische Original und die Übersetzung stehen sich zeilengenau 1:1 gegenüber, wobei das Original einen lichteren Schwarzton hat. Der Umschlag ist in bordeauxrot/ schwarz gehalten, die Titelseite signalisiert klare Sachlichkeit auf den provokanten Titel konzentriert. Auf den Umschlag-Innenseiten sind Kürzestinfos zu Person und Werk Simone Weils und zum Übersetzer zu lesen. Die mehr als gelungene Übersetzungsarbeit ist auch formal ansprechend und einladend.
Spannende Lektüre, veränderungsträchtiges Gedankenfutter
Wieso unterzieht man sich ohne Not und aus freien Stücken der mühsamen Arbeit, diesen Text zu übersetzen, der zudem von einer „Verrückten“ (Charles de Gaulle) vor etwa 80 Jahren geschrieben worden ist, übertitelt mit einem leidenschaftslosen Satz, der hammermäßig in den politisch so „vertrauten Alltag(s) in Österreich“ (S. 5) und weit darüber hinaus, fährt? Genau deswegen, wäre eine Antwort; eine zweite, aus dem Leben des Kirchenvaters Augustin: „Nimm und lies!“ Spannende Lektüre, veränderungsträchtiges Gedankenfutter vom Feinsten wird geboten: (a) zu einem Thema, das unser aller Leben im sozialen, politischen Miteinander wesentlich angeht; (b) mit einem bedachtsam, empathisch und sachkundig übersetzten französischen Text, der vor ca. 8 Jahrzehnten von einer genialen, todkranken jungen Frau, die heute als Philosophin, Aktivistin und Mystikerin als kompromisslos-radikale spirituelle Meisterin gilt, geschrieben wurde und seit den 1950er Jahren zum Grundbestand der europäischen Geisteswelt gehört.
Vom Kampf gegen die Ansprüche der Parteikollektive
Wer von uns demokratischen Bürgern:innen hätte je daran gedacht, die politischen Parteien abzuschaffen? Ja gut, im Stillen, bei sich, in der „geschlossenen“ Stammtisch-Gesellschaft oder im überschaubar-handverlesenen Freundeskreis, also im Privaten – da kann es vorkommen, dass man sie „zum Teufel wünscht“. O-Ton Weil und gleichzeitig ein kleiner Beweis gegen den Generalverdacht, sie hätte keinen Humor: „Würde man den Teufel das öffentliche Leben organisieren lassen, er könnte sich kein genialeres System wünschen.“ (S. 47) Die Spatzen pfeifen es aus allen Umfragebüros (sie gehören zum Parteisystem, wie Corona zum normalen Leben): Die Wahlbeteiligung sinkt, die Politikverdrossenheit steigt; das Volk, der Souverän, vollzieht die „innere Kündigung“. Dazu kommt Korruption, Nationalismus, neuerwachter Totalitarismus; Spaltungen, Risse, die Demokratie ächzt in einem himmelschreienden Revival der alten Todsünden[1]. Digitale Verbrechen kannte die weil’sche Welt noch nicht: Brexit-Manipulation, Kapitol-Sturm – es steht gar nicht gut um unsere kleinen und großen Welten, klimamäßig auch nicht und demokratiepolitisch, naja … vom Krieg und den Kriegen nicht zu reden. Nicht so schlecht allerdings, dass die Suche nach Rettung, Heilung, Auswegen schon aufgegeben wäre. Noch wird gekämpft – auch mit und gegen die Ansprüche der Parteikollektive, die „das ganze Geistesleben unserer Zeit“ beeinflussen. (S. 49)
Wer von uns könnte, würde oder möchte im Ernst und in der prekären Situation, die einen jeden von uns umgibt, ja durchdringt – über ein politisches Projekt nachdenken, mit dem Ziel, die Parteien abzuschaffen, deren „genau genommen einziges Ziel (…) ihr eigenes – unbegrenztes – Wachstum ist“. Auf lustenauerisch: „Ehar nö, joo eigentli: Nö!!“ Und warum ist das so? O-Ton Weil: „Was wir ‚Demokratie‘ nennen, bietet dem Volk keine Gelegenheit und gibt ihm keine Mittel in die Hand, seine Meinung über irgendein Problem des öffentlichen Lebens zu äußern.“ (S. 21) Das absolute „keine“ könnte u. U. relativiert werden, meinen Sie? Gut, vielleicht … aber: Der „Stachel“ des Wahren darin, des Gerechten und des Vorrangs des Gemeinwohls steckt im „Fleisch“ der Gesellschaft …
Ein politisch-mystisch-philosophisches Vermächtnis
Und das ist gut so! Der totalitäre Ungeist namens Parteilichkeit hat sich breit gemacht in Kunst und Wissenschaft, in öffentlichen Institutionen und Medien, ja selbst in der Kirche. Er gewinnt „wo das Parteiergreifen und Stellung beziehen die Verpflichtung nachzudenken“ (S. 63) abgelöst haben und hindert die Vernunft als Wegbereiterin zu wirken „für das innere Licht der Evidenz, die Gabe der Unterscheidung“, das den Einzelnen in die Seele gelegt ist. Mit anderen Worten: Ohne die Abschaffung der politischen Parteien ist „Die Verwurzelung“[2], also der Versuch, die Grundprinzipien der Menschlichkeit und der Zivilisation neu zu bestimmen, kaum realisierbar. Ihre Vorstellung dieser neuen Grundkategorie des Menschseins – die reale, aktive und natürliche Teilhabe eines Menschen am Leben einer Gemeinschaft – zu gestalten, ist ihr „Glaubensbekenntnis“, wie sie es selbst nannte. Darüber hinaus ein politisch-mystischphilosophisches Vermächtnis, dessen Potential noch weitgehend ungehoben ist.
[1] Hochmut, Geiz, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid, Faulheit. vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Todsünde
[2] Simone Weil, L’enracinement. Prélude à une déclaration des devoirs envers l’être humain. Gallimard, Paris 1950. / Dt. Erstausgabe: Die Einwurzelung. Einführung in die Pflichten dem menschlichen Wesen gegenüber. Übers. von Friedhelm Kemp. München 1956.
(Walter L. Buder, Rezension in: Kultur. Zeitschrift für Kultur und Gesellschaft, Ausgabe September 2022, [S. 130 f.], online veröffentlicht am 18. September 2022)
https://www.kulturzeitschrift.at/kritiken/literatur/vom-ungeist-der-parteilichkeit-und-der-abschaffung-der-parteien
Willibald Feinig: Wie Demokratie Zukunft haben kann
Eine Buchpräsentation am Spielboden lud kürzlich zum Nachdenken über Simone Weils „Notizen zur Abschaffung der politischen Parteien“ ein.
Eine Sinfonie an Reaktionen auf einen klaren, zeitbedingten und zugleich aktuellen Traktat war die Präsentation der „Notizen zur Abschaffung der politischen Parteien“ im Dornbirner Spielboden. Simone Weils Text, vom Berichterstatter übersetzt und mitsamt dem Original herausgegeben, entstand im Untergrund oder schon im englischen Exil – nachdem Frankreich, Mutterland der Demokratie, sang- und klanglos vor dem populistischen Terror Hitlers kapituliert hatte.
Parteien ruinieren. Die politische Schrift entfaltet die Überzeugung der französischen Denkerin (1909–1943), dass es die politischen Parteien sind, mit ihrer Kontrolle von Herz und Hirn, ihrer Emotionalisierung und ihrem Machtstreben, die über kurz oder lang die Demokratie ruinieren. Dazu äußerten sich bei der Buchvorstellung Leser/innen verschiedener Generationen, Ausbildung und Interessenslage. Walter Buder, der über Weils erd- und gesellschaftsgebundene Mystik dissertiert hat, versteht den provokanten Text im Rahmen des umfangreichen, erst nach Weils frühem Tod erschienenen Werks. Vor allem das Hauptwerk („Die Einwurzelung“ / L’enracinement) kreise um die Erfahrung überrationaler Gewissheit und Gerechtigkeit jenseits des Machbaren. Für Weil kann ohne diese Voraussetzung nichts der Allgemeinheit wie dem Einzelnen Dienliches zustande kommen.
Marianne Gronemeyer, in Vorarlberg durch Vorträge und Gespräche bekannt, führte den Gedankengang des Traktats kritisch weiter. Sie warnte davor, die Forderung Weils nach „Leidenschaftslosigkeit“ als Suche nach Konsens und Kompromiss um jeden Preis misszuverstehen – menschengemäß und sinnvoll sei intensives Gespräch, Achtung im Dissens. Dadurch erst, auch im Stehenlassen verschiedener Standpunkte, im Unterlassen (etwa von Wachstum und Konsum) komme man, so die Soziologin („Die Macht der Bedürfnisse“) und Illich-Schülerin, der von Weil bitter vermissten und leidenschaftlich eingeforderten Wahrheit, auch in der Politik, nahe.
Wolfgang Palaver differenziert. Der Innsbrucker Theologe Wolfgang Palaver, Präsident von „Pax Christi“ Österreich, fand Weils Analyse der Parteilichkeit und ihrer Folgen überaus stringent – auch wenn sich die Parteien, inklusive der von Weil 1941 noch ausgenommenen englischen und amerikanischen, inzwischen selbst ad absurdum führen und weltweit ihre Wähler verlieren. Die Gefahr des Aufwühlens von Leidenschaften für machtpolitische Zwecke sei durch die sogenannten sozialen Medien seit Weils Zeiten sogar dramatisch gestiegen, ihr Lösungsvorschlag dagegen – aus der Not heraus verständlich – messianischer Art; er würde Gewalt nicht verhindern.
Fremdheit bei Jürgen Thaler. Der Germanist Jürgen Thaler, seit 1999 Leiter des Franz-Michel-Felder-Archivs, ging nicht auf die für den Bregenzerwälder Autor zentrale Verbindung von politischer und literarischer Verantwortlichkeit ein, die dieser fast ein Jahrhundert vor Weil konsequent lebte, früh und leidvoll verstorben wie sie – sondern auf den Text selbst: Thaler sieht in Simone Weil wie in den Besten ihrer Generation – etwa Walter Benjamin – das Individuum, dem seine Umgebung und Gesellschaft immer fremder und untragbarer wird, und das mit größtem existentiellen Einsatz und allen Mitteln, künstlerisch, politisch und spirituell, die „Einwurzelung“ im Hier und Jetzt anstrebt. Daher auch die herausfordernde Beiläufigkeit im Titel („Notizen“) des radikalen Pamphlets aus dem Untergrund; sie schreit geradezu nach künftiger Auseinandersetzung.
Bernie Weber’s heilsame Lektüre. Die Runde beschloss der Landtagsabgeordnete, Gemeinderat und Musiker Bernie Weber, der sich erst im gereiften Alter (von den Grünen) für die Politik anwerben ließ. Er nannte die Lektüre Weils heilsam für Politiker/innen und machte anhand eines Beispiels klar, was für einen schmerzlichen Lernprozess es für Parteien bedeute, die Sache in den Vordergrund zu stellen und etwa den Diebstahl eines Konzepts durch die Partei-Konkurrenz zu ertragen.
Verrückte Gedanken? Die Runde war sich – mit Simone Weil – einig darin, dass Demokratie nur Sinn macht, wenn Begabung und Anspruch des Einzelnen mit der hohen Kunst und Komplexität der Politik immer neu in Verbindung gebracht und die Gefahren der Parteilichkeit beachtet werden. Das Experiment vielfältiger Antwort auf die unzeitgemäß-zeitgemäßen Gedanken Simone Weils vor etwa vierzig Hörenden wird in einem Jahr fortgesetzt. Wahrscheinlich anhand ihrer einst von De Gaulle für „verrückt“ erklärten Gedanken zu Europa, formuliert in einer Zeit, als dieses ein Schlachtfeld war.
(Willibald Feinig im Vorarlberger KirchenBlatt vom 20. Oktober 2022, S. 19)
Gotthard Fuchs: Parteiengeschacher
Das Bedürfnis nach Schwarz-Weiß-Denken scheint weltweit zuzunehmen, zu komplex sind die Zeitläufte. Der Wunsch nach klaren Kanten und starken Führungsfiguren treibt gefährliche Blüten, selbst Demokratien können über kurz oder lang zur Machtergreifung autoritärer Personen und Konstellationen führen.
„Die da oben“ isolieren sich, die Kluft zwischen Volk und Volksvertretern nimmt fatal zu, Politik- und eben auch Demokratieverdrossenheit bilden eine gefährliche Mischung. Da kann diese bisher weithin unbekannte Kleinschrift der unerbittlichen Denkerin Simone Weil hellhörig(er) machen. In wenigen scharfen Strichen diagnostiziert Weil den Ungeist der Parteilichkeit als Gift jeden Zusammenlebens. Jede politische Partei sei „im Keim und ihrem Anspruch nach totalitär“ und habe nur ihr eigenes Wachstum im Sinn. Sachfragen werden personalisiert, der egoistische Wille zum eigenen Machterhalt fördert faule Kompromisse, Servilität und Intransparenz.
Was Simone Weil vor 80 Jahren scharfsinnig (und einseitig) analysierte, hat unter den Gegebenheiten digitaler Wirklichkeitsproduktion natürlich eine besondere Brisanz und Dramatik. Schon 1940 in Marseille geschrieben, nimmt Weil ihre Parteien-Kritik in ihrem geistlichen Testament „Einwurzelung“ teils wörtlich auf – ein großes Dokument mystisch-politischer Analyse. Dass hier Originaltext und Übersetzung geboten werden, ist höchst verdienstvoll – für Weil-Liebhaber ebenso wie für alle, denen angesichts der Polit-Szenarien auf dem Globus bange wird.
(Gotthard Fuchs, Rezension in: Christ in der Gegenwart, 75. Jahrgang, Heft 5 vom 29. Januar 2023)
https://www.herder.de/cig/cig-ausgaben/archiv/2023/5-2023/parteiengeschacher-buchbesprechung/