Das Meer
Atlantischer Gesang
Gert Heidenreich
ISBN: 978-3-99126-145-2
21×13 cm, 124 Seiten, Hardcover
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Kurzbeschreibung
Gert Heidenreichs poetisches Werk Das Meer – Atlantischer Gesang ist ein Epos über die See und die berühmten Kreidefelsen der Côte d‘Albâtre in der Normandie. Seit 1976 ist die französische Küste zwischen Le Havre und Calais die zweite Heimat des Schriftstellers. Sie bestimmt seine Impressionen, Erzählungen und Reflexionen, die sich in seinem Atlantischen Gesang zu einer eigenen lyrischen Form verbinden: eine große Ode auf das Meer und eine dichterische Reise zum Ursprung des Lebens.
Gert Heidenreich liest am 16. März 2023 im Haus am Dom in Frankfurt am Main aus seinem atlantischem Gesang „Das Meer“ (☞, via YouTube).
Rezensionen
Wolfgang Höbel: Rhapsodie in AtlantikblauDer Schriftsteller Gert Heidenreich besingt in einem Langgedicht den Ozean vor seiner Haustür. »Das Meer« heißt das mehr als 100 Seiten lange Gedicht des Autors, der nach eigener Auskunft seit vier Jahrzehnten die Sommerzeit in Nordfrankreich verbringt und offenbar ein Haus in der Normandie besitzt. Es ist eine vertrackte und auch ein bisschen verrückte Huldigung an den Atlantik, die da in 28 Kapiteln angestimmt wird. Sie handeln unter anderem von aktuellen politischen Sorgen der Landbewohner über eine »weltweit einstürzende Demokratie«, von Johann Wolfgang von Goethe und E. T. A. Hoffmann und von Gedanken ans eigene Sterben.
Der Dichter Heidenreich, 78, hat zahlreiche Romane, Krimis, Theaterstücke und eine Biografie Thomas Gottschalks veröffentlicht und ist ein herausragend guter Hörbuchsprecher; seinen Hauptwohnsitz hat er in der Nähe von München. Im Gesang auf das Meer lässt er ulkige Wortschöpfungen aufbrausen, beschwört Sturmwind und ozeanische Geister, berichtet von historischen Südpolexpeditionen, aber auch vom riesigen Plastikmüllstrudel im Sargassomeer der Gegenwart. Und in Momenten der friedlichen Wellenbetrachtung wird ihm recht andächtig ums Herz. »Van Gogh, heißt es, ging / wenn ihn ein starkes Verlangen nach Frömmigkeit packte / nachts hinaus und malte die Sterne«, schreibt Heidenreich. »Mir ist das Tageslicht an der normannischen Steilküste / sternig genug.«
([HÖB], Rezension erschienen in Der Spiegel Nr. 49/22 vom 3. Dezember 2022, S. 114)
Johanna Mayer: Ode an den Ozean
Gert Heidenreichs Das Meer – Atlantischer Gesang ist ein Epos über die See und die berühmten Kreidefelsen der Côte d‘Albâtre in der Normandie. Seit 1976 ist die französische Küste zwischen Le Havre und Calais die zweite Heimat des Schriftstellers. Sie bestimmt seine Impressionen, Erzählungen und Reflexionen, die sich in diesem poetischen Werk zu einer eigenen lyrischen Form verbinden: eine große Ode auf das Meer und eine dichterische Reise zum Ursprung des Lebens. Johanna Mayer hat für das Literaturportal Bayern in Heidenreichs Atlantischen Gesang hineingelesen.
Ich kann mich bis heute daran erinnern, als ich zum ersten Mal das Meer sah: Die ewigen Weiten, der stürmische Wind, die tiefblaue, flimmernde Oberfläche des Wassers (ich war davon überzeugt, dass man darauf laufen könne!) – nie zuvor in meinem Leben hatte ich das Gefühl gehabt, mich Auge in Auge mit etwas so Erhabenem zu befinden, etwas, wofür mir die Worte fehlten. Doch auch wenn mir selbst die Worte bis heute fehlen: In Das Meer – Atlantischer Gesang beschreibt der im oberbayerischen Seefeld lebende Schriftsteller Gert Heidenreich etwas, was nur wenige Menschen schildern können: die tiefsten Tiefen des Ozeans – und des Menschen.
Es ist nicht das erste Mal, dass der Schriftsteller das Meer als zentrales Thema seines Werkes wählt: Seit 1976 verbringt Heidenreich jedes Jahr mehrere Monate an der französischen Steilküste zwischen Etrétat und Dieppe, einer Gegend, die auch Künstler wie Claude Monet inspirierte. In XXVIII Kapiteln beschreibt Heidenreich Schönheit und Zauber des Meeres, führt Dialog mit den Bewohnern der See, schreibt Tagebuch über das wechselhafte Wesen des Ozeans. Er verknüpft Alt und Neu, reflektiert schonungslos Plastikverschmutzung und Artensterben, doch sinniert er zugleich über mystische Sagengestalten, zitiert Goethe und verleiht dem Meer selbst eine Stimme:
Ich bin das Meer. Ich habe keine Seele. Ich bin das Meer. Ich kenne Ewigkeit. Mit deinem Leben habe ich nichts zu tun. Ich bin das Meer und kann von dir nichts wissen. Ich habe keine Augen. Keinen Mund. Ich bin nicht, was du siehst. Und nimmst. Und nutzt. Ich bin das Meer. Du wirst mich nicht begreifen.
Das Werk ist nicht nur eine „Feier der See“. Es ist vielleicht Heidenreichs persönlichstes Buch, in das er spielerisch Autobiografisches einfließen lässt, Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart in geradezu poetischen Bezug setzt und zeigt: Auch die schwerste Welle kann keinen Felsen in der Brandung versetzen – und geht vorbei.
… Dass wir niemals begreifen, wie alles, was wir Bewegung nennen, beginnt? […] Bevor ein Augenblick zur Sehnsucht wird und etwas in uns schon liebt, wir aber ahnungslos und unbewegt uns sicher fühlen, kühl bis ans Herz und souverän das Leben anders planen, als es wird; wo setzt das ein? Was weiß in uns, bevor wir von uns wissen? Wann spürt die Flut den Augenblick, der sie zur Ebbe drängt? …
Das Meer – Atlantischer Gesang ist in der Tat ein „Ozean“: ein Ozean an Buchstaben und Wörtern, Gefühlen und Gedanken, mal fröhlich und sacht vor sich hinplätschernd, mal gewaltige, majestätische Wellen schlagend. Man muss nur tief genug hineintauchen, um die wahren Schätze und Geheimnisse, verborgen zwischen den Zeilen liegend, emporzufischen.
(Johanna Mayer, Rezension für das Literaturportal Bayern, online veröffentlicht am 28. Februar 2023)
https://www.literaturportal-bayern.de/journal?task=lpbblog.default&id=2961
Angelika Overath: Vom Meer – und vom Innenmeer der Seele
Der Schnabelhai schnappt sich den Hasenwurm: Gert Heidenreichs vielgestaltiger und polyrhythmischer „Atlantischer Gesang“
Gert Heidenreich, Jahrgang 1944, war ein gefragter (Reise-)Journalist und beliebter Radiosprecher; man kennt seine Stimme aus Hörspielen und gut sechzig Hörbüchern. Und seinen Ton und seine Themen aus vielen Romanen. Geprägt durch die Lebenskultur der Achtundsechziger wie durch die folgenden ökologischen Bewegungen, schreibt er als ein Autor der Aufklärung, die gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts noch unhintergehbar schien.
„Das Meer – Atlantischer Gesang“ ist das Alterswerk eines Mannes, der zu einer Generation gehört, die sich vielleicht als erste dem Altern verweigerte. Diese Kohorte brachte keine Greise hervor, sondern eher den Typ des „uralten Jünglings“, wie sich das lyrische Ich einmal nicht nur selbstironisch bezeichnet: dynamisch, liebesgewillt dem absehbaren Lebenshorizont zu. Manche dieser jungen Alten mögen sich heute, angesichts der Feuerwerke von MeToo-Aktivistinnen, die Augen reiben. Die wiederum könnten den Kopf schütteln über Heidenreichs erotische Anverwandlungen der See.
Geboren im brandenburgischen Eberswalde, lebt Heidenreich am Ostufer des bayrischen Pilsensees und seit 1976 auch jeweils mehrere Monate im Jahr an der Alabasterküste der Normandie zwischen Étretat und Dieppe. Diese legendäre Passage mit ihren bis zu hundert Meter hohen hellen Kalkfelsen, Gesteinsnasen und Höhlungen, die jeden Moment anders leuchten können, vielbesungen und immer wieder gemalt, spielt in Heidenreichs Romanen eine Rolle und wird nun zum poetischen Zentrum eines furiosen Daseinsrauschs und Lebensrückblicks. Ausgehend von Alltagsnotaten, zeigen sich das atlantische Meer und die normannische Küste impressionsstark und symbolbereit.
Die Natur ist da in der spanne von Verheißung und Schrecken, aber im lustvollen Singen des Autors erscheint sie auch als Maskenball, als ein salznasses barockes Welttheater. Gleich im ersten der 28 (mal kürzeren oder längeren) Gesänge spricht ein Ich, „als Verseschmied verkleidet“, das Meer mit „Madame“ an. „Madame“ wird „Dame in schwappender Robe, / die mit Spitzenbesatz nach mir leckt“; dann wieder ist sie die „alte Atlantika“, die ihm „die schwere Hüfte ans Knie“ drängt und so „Verneigung“ gebietet. Oder, im lautmalerischen Sprachsprudelbad, „Meeresmadame“, deren „klapperndes Schmatzen“ erklingt, „als schlappte ihre weiße Prothese, wenn sie knabbert am Land“. Der Radiomann Gert Heidenreich kommt vom Sound und orchestriert vielstimmige Gesänge, er lässt uns hören die „trostlosen Oden der Gurken am Grund, / die Choräle aller Korallen, / der Sandwürmer längliche Aphorismen“. Und kokett fragt er seine Frau Meer: „Mit wem haben Sie sich hinterm Horizont gewälzt, / dass Sie so zerwühlt auf den Strand gerollt kommen?“ Und wieder ganz anders im kurzen zweiten Gesang: „Mädchenhaft rennst du im morgen an Land, / vor mir springt dein Schaum auf, als wär ich dir neu.“ Das Meer ist weiblich, ist „bleisilbern und faul“, ist „dösendes Weib auf dem Rücken“, ist vielgestaltiges Gegenüber und Seelenspiegel des Ich, dem es oder besser in dem es sich selbst (seinem „Innenmeer“) in wechselvollen Wassermomenten begegnet.
Der Blick kann auch von der See auf die Klippen treffen. Auf die kalkigen Bibliotheken der Vorzeit, in die sich die Meerestiere vor Millionen von Jahren eingeschrieben haben, damals, als das, was nun als Land aufragt, unter Wasser war. „Beharrlich das Schweigen der Ammoniten / tief in der Steilwand: Sterbend vertrauten sie ihre / schöngeschwungenen Hörnergehäuse dem Riff an, / als sie den unwiderruflichen Untergang spürten.“
Und wie bei allen Meerstücken ziehen die Wolken vorbei, die Wolken, die das schauende Ich „als ihre willige Feder“ wiegen, sie sind das „Bettzeug“ des Himmels. Aber auch wolkig verzogen kommen sie vorbei als „phantasmagorische Tiere (…) / der Schnabelhai schnappt sich den Hasenwurm“; und das Ich „verblickt“ sich im „windgewischten Zoo“. Auch Menschen gibt es. Neben Frau Meer lockt die vertraute Schöne aus Fleisch und Blut zum Liebesspiel. Und in Gesang XVII kommt Sigmund Freud mit aufs Boot und geht weinselig im Traum mit dem Sänger unter. Ja, die Psychoanalyse ist so alt wie die Entdeckung der Tiefsee, eine Koinzidenz, aus der Gert Heidenreich ein heiteres Kabinettstück macht.
In diesen Gesängen hat vieles Platz, sie bergen das Strandgut eines langen Lebens. Momente von Kindheit blitzen auf („Wir Mitgeborenen des Kriegs / haben in Trümmern den Tod verspielt, / wo Ziegelstaub uns Patronen, / messingschimmernde, preisgab, / die wir in Hosentaschen heimtrugen“) ebenso wie Augenblicke gegenwärtiger Wut über den „schamlosen Weißhauslump“ an der „anderen Küste des Ozeans“. Der lange Gesang XXIV widmet sich, in Referenz auf Jonas im Bauch des Wals, dem Wahnsinn von Giftmüll und Plastik, die aus dem Meer eine Mülldeponie machen. Und kathartisch erscheint eine überstandene Unwetternacht „Mein Glück war jener atlantische Sturm / an der Côte d'Albâtre“.
Immer wieder gibt es, ohne Didaktik, ohne symbolische Aufladung, so in Gesang IX, der einen Tageslauf am Meer umgreift, frische Naturbilder, etwa wenn Heidenreich die Gipfelzüge der Wellenberge aufruft: „nur auf den Kämmen, die jetzt Schäume tragen, / liegt noch helles Grün: wie Erbsen grün sind, / wenn sie aus den Schoten platzen“, aber wenige Zeile später kippt die Szene in Kitsch, wo „der letzte, selbstverlorene Held / im Sonnenuntergang verbrennt“.
Und wo sich einer vielleicht am rilkisierend Gefühligen stört oder an den Echos des Lyrik-Nachtstudios der Fünfziger oder an den vielen, oft kaum eingebundenen Bildungs-Einsprengseln aus Literatur und Malerei, findet ein anderer das schön und klug. Fraglos ist, dass sich Gert Heidenreich als ein Meister der rhythmischen Form erweist. Die Tonlagen wechseln, sind heftiger oder zart, komisch oder melancholisch, behauptend oder verführend. Der Sound wechselt ständig, aber er stimmt. Hier klappert nichts, nichts ist unbeholfen. Vielleicht sollten wir diese Atlantischen Gesänge in der Stimme und mit dem Atem des Autors hören und uns, wie von Wind und Meereswellen, im Singen mitnehmen lassen. Das Licht „tauschte am Horizont Himmel und Meer. / Und ich begriff: Es ist weder Teilchen noch Welle. / Es ist seit Anfang ein Klang.“
(Angelika Overath, Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Nr. 64/23 vom 16. März 2023, S. 10)
Harry Oberländer: Ein atlantisches Epos: Gert Heidenreichs Canto „Das Meer“
„Ich bin das Meer. Du wirst mich nicht begreifen.“ Ein beeindruckendes Versepos, dem der Schriftsteller, Hörspielsprecher, Journalist, Rundfunk- und Hörbuchsprecher Gert Heidenreich den schlichten und doch umfassenden Titel „Das Meer“ gegeben hat, endet mit diesen Worten. Harry Oberländer hat sich in die Gezeiten begeben.
Lang ist die Liste der Autoren, denen Gert Heidenreich seine Stimme gegeben hat. Unter den Titeln der Hörbücher finden sich Preziosen der Weltliteratur wie Umberto Ecos Der Name der Rose und Der Friedhof von Prag, Scott Fitzgeralds Der große Gatsby, eine Komplettlesung von Tolkiens Herr der Ringe, Seumes Spaziergang nach Syrakus und Traumpfade von Bruce Chatwin. Nicht zu vergessen: seine eigenen literarischen Werke von der ersten Fassung der Steinesammlerin (1984) über die Serie der Swoboda Krimis bis hin zum Roman Schweigekind (2018), der mit der Frage beginnt: „Wohin geht das Glück, wenn es verschwindet?“
Nun hat Gert Heidenreich im Zeitalter der Performancedichtung ein poetisches Epos veröffentlicht, dessen Gegenstand Das Meer zu den Elementarthemen der Literaturgeschichte gehört. Er hat es nicht nur als Buch, sondern auch als Hörbuch veröffentlicht, natürlich liest er selbst, begleitet von Musikpassagen seines Sohnes Julian Heidenreich.
Der Ozean mit seinen sieben Meeren, das Meer und das Wasser, gewaltige elementare Themen. Das könnte verwegen erscheinen angesichts einer Motivgeschichte von Homer bis Ezra Pound, von Theodor Storm und Hermann Melville bis Ernest Hemingway, aber ohne Verwegenheit kommt niemand aus, der es mit See und Seefahrt zu tun hat – und eben auch mit der Erotik des Wassers, dem Schwimmen und Tauchen, dem Segeln und Schnorcheln oder auch der intensiven Wahrnehmung der Erdkugel im Blick auf die Horizonte und im Erlebnis der wütenden Elemente. Gert Heidenreichs große Gelehrsamkeit steht seinem Blick dabei stets zur Seite, um sowohl Makro- als auch Mikrokosmos in der lyrischen Darstellung zu berücksichtigen. Und es ist nicht nur die Gelehrsamkeit, sondern eine gelebte Erfahrung, von der auch durchaus ironisch-selbstironisch (Ich verwechsle mich nicht mit Poseidon, ich bin ein uralter Jüngling…) berichtet wird. Es ist die Beziehung zu einer Landschaft, die alle Gefühlslagen der Liebe einschließt auf einer Skala, die von Euphorie bis Trauer reicht.
„Ach, mein vertrauter Atlantik, meine innen bewohnte Küste,
meine vierzigjährige Sehnsucht nach jenem Draußen,
wohin ich mich ohne Segel träumte, ohne Freund,
ich war eine losgerissene, weißhäutige Boje;
langsam mattierte das Salz meine Haut,
der Atem verging mir,
ich sah mich untergehen auf der glimmenden Spur“
Seit den siebziger Jahren des verflossenen Jahrhunderts sind die Kreidefelsen der Côte d’ Albâtre Heidenreichs zweite oder sollte ich sagen: andere Heimat geworden, die sporadisch schon in seiner umfangreichen Literaturproduktion auftauchte. Etwa in seinem Kriminalroman Der Fall, der mit einem Mord am Strand von Les Petites Dalles beginnt. Heidenreich vergleicht die Liebe zu dieser Landschaft mit der Liebe zu einer Frau. Folgerichtig ist der Ozean, der da mit seinen Wellen heranrauscht, mit Ebbe und Flut, im Sonnenlicht oder im Sturm weiblich. Madame la mère, eine Dame in schwappender Robe, der der Dichter mit Höflichkeit, Respekt und Leidenschaft gegenübertritt. Dass die deutsche (Kanzlei-)Sprache sie zu einem Neutrum gemacht hat, kann da nur Hohn und Spott auslösen.
„Vergorener Einfall, dich sächlich zu taufen!
Das Meer? Selbst wenn wir in Sachen Geschlecht
Die Zweiheit auf allerlei Art weiten, ist das
Neutrum abersinnig für dich: hochdeutscher Stumpfsinn“
Zeitlich und räumlich unergründbar groß ist sie eine Riesin: die alte Atlantika. Sie, la mère, nötigt dem Dichter Respekt und Höflichkeit ab, lässt ihn auf die Knie sinken oder den Satzbau der Wellen studieren, sich als beherzter Schwimmer in sie hineinstürzen oder auch ergriffen schweigen. Madame allerdings schweigt im Gegensatz zu ihrem Verehrer nicht. Sie arbeitet unaufhörlich an ihrer Mundflut und tintet Folianten voll:
„Seit Millionen von Jahren trägt sie schwankende Epen
von einer Küste zur andern, und ihre Folianten,
die ein Krake hütet, vermutlich,
ein eifersaugnäpfiger Tiefseebibliothekar,
enthalten die schimmernde Bildung der Austern,
der Seepferde Schwimmkursregister,
der Krebse quergängiges Credo …“
Abgesehen davon, dass das Wort eifersaugnäpfig schon jetzt mein Wort des Jahres ist: Das ganze Gewimmel der Tiefen stellt Madame la mère vor, soweit es ihre Lektoren zulassen, die Hummer mit Kürzungseinwänden. Ironie statt Pathos. Obwohl, als Rezensent, den man immer noch nicht totgeschlagen hat, kann ich auch mit Pathos leben. Erinnere ich mich doch noch heute gerne daran, wie ich im Fernsehen des vergangenen Jahrhunderts den großen Gert Fröbe hörte und sah, wie er ein expressionistisches Naturgedicht von Christian Morgenstern in melodramatischer Steigerung rezitierte: mit raumgreifenden Armbewegungen in unheilschwangerer Stimmlage: Ich fresse dich, ich fresse dich, frehehessse dich! Womit das Meer als Täterin und die Küste als Opfer gemeint war.
Auch davon handelt Heidenreichs Versepos. Von einem Meer, das die Klippen angreift, ganze Säulen herausbeißt und bis in die Dörfer hinauf die Straßen der Fischer flutet. Davon, dass wir niemals begreifen, wie alles, was wir Bewegung nennen, beginnt. Dass wir nicht wissen, was den Monsterwellen zugrunde liegt, die die Seefahrer nur benennen können: Kawenzmann, weiße Wand, Drei Schwestern. Und also bei der fundamentalen philosophischen Rätselfrage landen, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts.
Eine Landschaft, mit langer Geschichte. Gert Heidenreich erzählt sie in dem für mich schönsten seiner Gesänge. Er handelt von einer Steinfrau am Strand von Fécamp. Das ist der Fisiacampus, das Feld des Feigenbaums, der eine Reliquie bewahrte. Wir werden erinnert an die Schlacht von Hastings, die die Angelsachsen gegen den normannischen Eroberer Wilhelm verloren, und wir sehen die Bunker des Atlantikwalls, Hinterlassenschaft der großdeutschen Wehrmacht: überall Skulpturen des Unbekannten Soldaten. Die Steinfrau wartet vergeblich auf die Wiederkehr ihres Sohnes. Die Unbekannte fordert Antwort vom Horizont.
Das ist in den Zeiten des Krieges, in denen wir leben, ein starkes Bild.
(Harry Oberländer, Rezension für Faust-Kultur, online veröffentlicht am 24. März 2023)
https://faustkultur.de/literatur-buchkritik/ein-atlantisches-epos/
Barbara Würmseher: „Atlantischer Gesang“ voll Tiefe
Mit Gert Heidenreich kommt ein Autor der Gegenwartsliteratur zum Nordschwäbischen Literaturfestival. Er hat schwere Kost dabei, die indes überbordend schön ist an Ästhetik und Gehalt.
Diese Stimme kennt man! So sonor, so kultiviert, so distinguiert! Ihr Timbre hat man aus Hörspielen im Ohr, aus Rundfunkbeiträgen und Fernsehdokumentationen. Auch der Name hat einen besonderen Klang: Gert Heidenreich. Das Gesicht dazu und die Impulse hinter der Denkerstirn, die sich fortsetzen und zu Literatur werden, lernt man an diesem Abend in Gempfing hautnah kennen. Ganz unmittelbar. Ganz nah im familiären Kreis des Pfarrhof-Saals, wo ihn Hausherr Erich Hofgärtner und Markwart Herzog, Direktor der Schwaben-Akademie Irsee, willkommen heißen.
Dort sitzt Gert Heidenreich, Grandseigneur der deutschen Gegenwartsliteratur, und einer der rarer werdenden Vertreter der Dichter und Denker unseres Landes. Er hat sich hinter dem Pult verschanzt, hält mit der linken Hand sein Buch und unterstreicht mit dem Gestus der rechten das gesprochene Wort. Die Entfernung zwischen ihm und Publikum ist so nah, dass man beim Lesen sein Mienenspiel furchengenau studieren kann. Trotz dieser Intimität fremdelt er ein bisschen. Wirkt distanziert. Wenn er den in die Buchseiten gesenkten Blick hie und da hebt, Ist dieser ernst. Angestrengt. Später dann beim gemütlichen Teil fällt ein Stück weit diese Beherrschtheit ab und man lernt Gert Heidenreich auch anders kennen. Geselliger. Da taut er ein wenig auf.
Vorläufig aber ist er ganz und gar versunken in die schwere Materie zwischen zwei Buchdeckeln. Da bleibt kein Raum für lässige Dramaturgie des Vortrags. Nonchalante Hemdsärmeligkeit ist ohnehin nicht sein Stil. Humorvolle Anklänge schleichen sich eher leise ein – wie ein flüchtiger Hauch. Schmunzeln ist beinahe schon zu vieI gesagt.
Diese Buchdeckel – vielmehr die 122 Seiten, die zwischen ihnen liegen – sind das Thema, weswegen die Besucher des Nordschwäbischen Literaturfestivals nach Gempfing gepilgert sind. „Das Meer – Atlantischer Gesang“ sind sie betitelt und führen dorthin, wo Gert Heidenreich seit Jahrzehnten seinen Zweitwohnsitz hat: in die Normandie. Sein Haus, so verrät er, steht gerade mal sechs Kilometer von der Atlantikküste entfernt. Fasziniert von den dortigen Naturgewalten im Wechsel der Jahreszeiten, aber auch getrieben vom Streben, unter die Oberfläche zu blicken, zu hinterfragen und zu verstehen, hat er seinen „Atlantischen Gesang“ verfasst.
Er beginnt mit einer Liebeserklärung an dieses Meer, dem Heidenreich wie einer Frau, Dame, einer Madame huldigt, einer Mylady, die über den Kanal getanzt ist und drüben am normannischen Ufer zum französischen Girl wird. Es sind nicht immer schmeichelhafte Komplimente, die er der Angebeteten macht, etwa wenn „die alte Atlantika mir die schwere Hüfte ans Knie drängt“, oder wenn er vom „klappernden Schmatzen“ der Gischt schreibt, „als schlappte sie ihre weiße Prothese, wenn sie knabbert am Land“.
Und dennoch sprechen aus jeder Zeile des Prosagedichts Hingabe, Sehnsucht, Vertrautheit. „Sie aber, malachitene Schöne, schütteten Ihre bittere Liebe ganz über mich aus: In Ihrer Dünung bin ich hergeschwemmter Tang, hänge ergeben auf den Felsen der Ebbe.“
Gert Heidenreich mutet dem Publikum mit seinem „Atlantischen Gesang“ einiges zu, so dicht gedrängt ist jeder einzelne Satz mit Überlegungen, Fragen, auch Wissen, mit gedanklichen Spaziergängen in intellektuelle Welten, die sich nicht jedem eröffnen. Man kann es sich als Zuhörer nicht leisten, auch nur einen Moment abzuschweifen, wenn Heidenreich mit gesenkter Stimme den Spuren seiner Gedanken folgt, die sich ihre Wege durch Geschichte, Geografie, Philosophie und Naturwissenschaft bahnen, sonst verliert man den roten Faden. Man will es sich aber auch nicht leisten, diesen Faden aus der Hand zu geben, denn was Heidenreich diesem seinem Atlantik an Gehalt entlockt, fasziniert. So hat sicher keiner der Zuhörer das Meer jemals wahrgenommen. Intuitiv vielleicht manches ansatzweise gespürt, indes diese Art der Tiefe des Ozeans noch nie begriffen.
Heidenreich fragt – beinahe schon hadernd – nach dem Beginn allen Lebens. Was denn beim Urknall geknallt habe, wann sich Moleküle zu Leben geballt hätten. Und er würde sich Auskunft erhoffen von Bakterien, die sich an heißen Schloten laben, und von Borstenwürmern, die er sich sehnt, zu interviewen.
In einer Zeit, da wir Gefahr laufen, unseren reichen Sprachschatz mehr und mehr zu verlieren, weil wir ihn nicht nutzen, in der wir an fortschreitender Armut unserer Ausdrucksfähigkeit leiden, greift Gert Heidenreich ganz tief in diese Schatztruhe und fördert fast vergessene Wortgebilde zutage. Kreiert zudem eigene ästhetische Wortschöpfungen, die in ihrer Schönheit den Atem anhalten lassen. Sein „Atlantischer Gesang“ ist so reich und stattlich, so überbordend an maxima!em Sättigungsgrad in Gehalt und Form. Und Heidenreich badet geradezu darin.
Nähme man Heidenreich beim Wort und würde diesen „Atlantischen Gesang“ singen wollen, hätte ein Arnold Schönberg die Zeilen in Zwölftonmusik fassen müssen, oder ein Krzysztof Penderecki in schmerzhafte Cluster, so fordernd sind sie, so unbequem auch. Frech und versöhnlich wird dann freilich am Ende jene Art des Seemannsgarns, wie es Gen Heidenreich zu spinnen versteht, als er mit dem Segelboot und einem Freund den Hafen von Fecamp verlässt, um über Jersey und Gernsey Richtung Lands End zu schippern. „Nehmen Sie es nicht für bare Münze“, bittet er das Publikum. Und in diesem Moment blitzt – tatsächlich – ein kleiner Schalk in seinen Augen …
(Barbara Würmseher in der Donauwörther Zeitung #49/24 vom 24. Februar 2024)