
Verstaubte Götter
Historisches · Zeitnahes
Dine Petrik
ISBN: 978-3-99126-336-4
19,5×13 cm, 164 Seiten, m. farb. Abb., fadengeheftetes Hardcover
22,00 €
Neuerscheinung
In den Warenkorb
Leseprobe (PDF)
Kurzbeschreibung
„Sind wir moralisch Handelnde?”, wenn wir in Sprache setzen, was in der Welt bzw. neben uns geschieht, wie Susan Sontag gefragt hat. Wie sprechen wir über das Gegenwärtige, wie über das Gewesene, wie über uns selbst? „Es ist eines meiner Prinzipien, dass man nicht über sich selbst schreibt”, schreibt Flaubert. Also schreiben! Da sind diese Sehnsuchtsorte Ägypten, Mesopotamien und – und da ist dieses Abbilden mit Augen und Stift und das Reflektieren dieser Erlebnisse und Erkenntnisse; dass jede Begegnung mit dem Anderen ein Gewinn ist. Die letzte Reise nach Kambodscha ging an Grenzen. Dazu eine instabile Gesellschaft, traumatisch verwoben mit den Relikten der Pol Pot-Zeit: Gewesenes, das noch geschrieben werden muss.
Rezensionen
Klaus Ebner: Reisen mit EngagementVon den Göttern des alten Ägyptens, Mesopotamiens und Indochina ist die Rede; Nildelta und Sumer, Babylon und Angkor Wat. Die alten Götter kommen zur Sprache, solche, die wir landläufig kennen, sowie andere, unbekanntere. Aber neben dem Historischen gibt es das Zeitnahe, die Jetztzeit mit ihren aktuellen Ereignissen, oder besser: den geopolitischen Verworrenheiten. Die Autorin spricht von Diktatoren, die vor noch nicht allzu langer Zeit abtreten mussten oder gestürzt wurden, ebenso wie von jenen, die das heutige Weltgeschehen in ihrem Würgegriff halten; die berechtigte Empörung der Verfasserin über die zahlreichen politischen Entgleisungen wird dabei spürbar. Vielleicht sind die Diktatoren des 20. und 21. Jahrhunderts die zeitgenössischen Götter; denn als solche spielen sie sich auf und entscheiden – willkürlich – über Leben und Tod hunderttausender Menschen. Verstaubt? Nun, vielleicht die antiken, doch sogar daran mögen wir zweifeln, wenn Parallelitäten zwischen den Alten und den Neuen sichtbar werden. Jedenfalls ist das Buch Verstaubte Götter ein gelungenes Beispiel einer »littérature engagée« im Sinne Sartres.
Dine Petrik wurde 1942 im Burgenland geboren und lebt heute in Wien. Sie studierte Malerei, begann relativ spät zu schreiben und veröffentlichte Lyrik, Reiseliteratur, Romane, Artikel und Essays. Bemerkenswert sind ihre Arbeiten und Publikationen über die Lyrikerin Hertha Kräftner. Petrik ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung und des Österreichischen Schriftsteller/innenverbandes. Verstaubte Götter ist eine Sammlung von Reiseessays, die trotz der unterschiedlichen Zielorte exzellent zusammenpassen und geradezu nahtlos aneinandergefügt wurden, aber (inhaltlich) erkennbar über einen längeren Zeitraum entstanden sein müssen.
Dass die Autorin sich nicht als Touristin, sondern als Reisende definiert, gibt ihre Intentionen wieder. Sie taucht in die – ferne oder auch nahe – Geschichte der Zielorte ein, setzt sich mit Kultur und Bevölkerung auseinander, und sie ist neugierig. Ideale Voraussetzungen für Reportagen, die nicht nur literarisch ansprechen, sondern eine geradezu ungeheure Menge an Informationen, Querverweisen und intertextuellen Anspielungen enthalten.
Manche Passagen warten mit stakkatoartigen Sätzen, häufig Ausrufen oder Fragen, auf, wie etwa in Südafrika: »Nach Südafrika? Warum nach Südafrika – nicht etwa der Liebe wegen, hm? Der Liebe? Nun ja, es ist mehr, tiefe Verehrung ist es! Also so ein weißer, alter Kapländer, hm? Nein, ein Schwarzer ist es. Aber geh! (…) Da gibt’s ständig Unruhen, Demos, Johannesburg, Durban, rassistische Gewalt und Hass gegen Ausländer, schon mal gehört? Wie, Weiß gegen Schwarz, doch nicht schon wieder die Apart / Nein, andersrum! Also Schwarz gegen Weiß? Andersrum!« (S. 100). Doch überwiegt insgesamt ein erzählerischer Tonfall. Der folgende Ausschnitt stammt aus Madrid: »Ein Mirakel, diese lasierenden Farbnetze, zum Beispiel bei Werken der Alten Meister, wie kostbare Teppiche, auf die der Blick nicht zu steigen wagt, blickt man doch über das Schönsein hinaus in eine Zeitlosigkeit. Uralte Kunstschätze, die uns in den Museen entgegenblicken, festgehalten für uns, für die kommende Zeit, für die gewesene, für die uns verlorengehende Zeit.« (S. 107)
Dine Petrik adressiert die Leser*innen direkt, lässt ihre Zielorte die Reisenden ansprechen und zieht uns damit direkt in den Text und in ein bestimmtes Ambiente hinein. So lautet etwa der Anfang von Ägypten: »Schon das Wort eine Wucht, ein flirrender Gongschlag, der Schlag einer Glocke mit Nach-Hall: Ä-! gyp-! ten-! Das Wort wie ein Lockruf. Komm, schlägt die Sonntagsglocke, Welt-Wunder erwarten dich, komm! Im Kopf längst skizziert, diesen Weltwunderboden samt den Pyramiden, wenn auch nicht zu glauben, dazu dieses Flirren an Tempelwänden und Türmen, die Zeichen und Bilder, Tierbilder, Vögel, Fische – Götter, wie diese alte Schrift heißt – Hier-o, nicht zu fassen, ein Flirren, und ein Flirren lässt sich nicht fassen. Komm, schlägt die Glocke, es gibt kein Entkommen! Ich lief zur Kirche: Ä-! gyp-! ten-!« (S. 39) Die flirrende Luft schlägt uns bei diesen Zeilen direkt ins Gesicht, wir spüren die Atemlosigkeit und die aufsteigende Begeisterung über das Reiseziel Ägypten.
Wir erfahren eine Menge über die lange Zeit griechische Stadt Alexandria, das kulturelle Amalgam von Ägyptern, Hellenen, Juden, Osmanen und Arabern; etwas von der Geschichte der Schrift, aber auch davon, dass im heutigen Ägypten niemand mehr Hieroglyphen lesen kann außer ein paar Wissenschaftlern. Der ägyptische Nobelpreisträger Nagib Mahfuz schrieb einen Roman über das Ende der ptolemäischen Dynastie unter Kleopatra. Dine Petrik erzählt von der alexandrinischen Bibliothek ebenso wie von den Muslimbrüdern und dem tödlichen Terroranschlag am Hatschepsut-Tempel. Und dass etwa fünfzehn Prozent der ägyptischen Bevölkerung Analphabeten sind, schmerzt.
Das Buch enthält nicht nur Essays, sondern eine ganze Reihe von Fotos, die von der Autorin an den jeweiligen Orten aufgenommen wurden. Diese sind in Farbe abgedruckt und machen aus der Lektüre ein ganz besonderes Erlebnis. Dass etwa der babylonische Löwe auf dem Lapislazuli-Tor nicht nur beschrieben, sondern auf einer Doppelseite abgebildet ist, das hat schon was! Dem Verlag sei herzlichst gedankt, dass der Autorin diese großartige Möglichkeit der Illustration geboten wurde.
Dine Petrik ist eine Reisende, die fragt und die auch keine Scheu vor unangenehmen Fragen hat. Was es in Kambodscha, anlässlich der, wie Leser*innen im Prolog erfahren, letzten Reise, mit den »killing fields« auf sich hat und wie sich das genau abgespielt hat unter Pol Pots Terrorregime, wird vom einheimischen Fremdenführer nur teilweise und mit einem gewissen Widerwillen beantwortet, weil das wirtschaftlich eher bescheiden dastehende Land in die Zukunft blicken und an dieser bauen möchte. Die permanente Erinnerung an die furchtbare – jüngere – Vergangenheit mag da verstören.
Die Autorin besuchte sehr unterschiedliche und weit voneinander entfernte Orte. Von Ägypten, Mesopotamien, Kambodscha und Südafrika war schon die Rede; weitere Reisen führten sie nach Japan, Vietnam, Madrid, Paris, Lemberg, St. Petersburg und ins byzantinisch-türkische Istanbul. Überraschend dann eine Begebenheit aus dem Wiener Jonasreindl, der im Volksmund so benannten Straßenbahnstation.
Manche der Texte sind Gedichte, die sich auflockernd zwischen den Essays eingefunden haben und ebenfalls Bezug nehmen auf ein bestimmtes Reiseziel. Die Gedichte sind in Kleinschreibung gehalten, nur Eigennamen weichen davon ab. Von Fukushima handelt das Gedicht Verstrahlt (S. 99), das zudem die Gemälde auch im Westen bekannter japanischer Maler evoziert:
bäumt sich die welle hoch
maßlose masse schlägt sich über
schlägt sich ufert aus im passepartout
die schaumgekrönte welle strahlt
was nicht zu sagen ist
verstrahlt, klagt Kanagawa
staubkanonen in der bucht
kneift sich der tod das auge
splittern lieber, das gefiederte
im baum, kadaverfische im konta
minierten wasser
nettes wort
kontaminiert entwindet sich
das land in schwarzen plastik
säcken hinter stacheldrähten
erdachsenbogenland
land unter-über sprung darüber
sagt die jugend, beben täglich
einmal hier, mal dort
sagt Hokusai und
gibt den pinsel ab
verstrahlt
selbst meine asche
ihr habt sie verstrahlt
Der Beitrag Paris handelt eigentlich von der burgenländischen Autorin Hertha Kräftner (1928–1951), zu der Dine Petrik mehrere wertvolle Arbeiten veröffentlicht hat. Kräftner schrieb unter anderem Das Pariser Tagebuch, auf das der Essay Bezug nimmt. Auf wenigen Seiten rafft Petrik hier einen kleinen Ausschnitt ihres Wissens zusammen, das, wie die fühlbare Dichte erahnen lässt, immens sein muss. Der Text macht Lust auf mehr, und Leser*innen mögen danach Petriks Die Hügel nach der Flut. Was geschah wirklich mit Hertha K.? (Otto Müller Verlag 1997) oder Ich bin wie ein kaltes Reptil (Bibliothek der Provinz 2022) zur Hand nehmen.
Verstaubte Götter wurde fadengeheftet als Hardcover in der Bibliothek der Provinz herausgegeben. Das Coverbild stammt ebenfalls von Dine Petrik. Ein handliches Buch, ausgesprochen gut gemacht, das zum Lesen und Verweilen einlädt und eine Menge hochinteressanter Informationen und Einsichten bereithält.
(Klaus Ebner, Rezension online veröffentlicht am Website des Österreichischen Schriftsteller/innenverbandes, April 2025)
https://www.oesv.or.at/rezension/verstaubte-goetter-historisches-zeitnahes.html
Weitere Bücher des Autor*s im Verlag:
Flucht vor der Nacht
Funken.Klagen
Handgewebe lapisblau
Ich bin wie ein kaltes Reptil
Stahlrosen zur Nacht
Traktate des Windes