
Süß oder scharf
Ein Tag im Leben einer Taugenichtsin ; [Novelle]
Karin Ivancsics
ISBN: 978-3-85252-675-1
21 x 15 cm, 144 Seiten, Hardcover
18,00 €
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Kurzbeschreibung
Joseph von Eichendorffs Novelle „Aus dem Leben eines Taugenichts“ könnte tatsächlich als Pate für die Erzählung herangezogen werden. Der moderne Taugenichts ist allerdings weiblichen Geschlechts und die Geschichte vom Biedermeier in das Wien der Jetztzeit verlegt. Die arbeitslose Protagonistin Iris stellt eine postmoderne Aussteigerin dar, die nicht mehr zeitgemäß erscheint: als so genannte »Sozialschmarotzerin« führte sie bislang – trotz verschärfter Bedingungen – ein zufriedenes Leben abseits von Yuppiearbeitsalltag bzw. Partywochenenden ihrer Altersgenossen, der Anfang- bis Mittdreißiger. Durch einen Zufall, das Ausgesperrtsein aus ihrer Wohnung, wird sie zur Vagabundin für eine Nacht.
Die Arche
AA steht auf Iris' Terminkalender, die Abkürzung für Arbeitsamt. Und selbstverständlich haben diese weißgesichtigen, schlecht gekleideten Beamten sie für acht Uhr bestellt, wer schon arbeitslos ist, der muss auch dafür leiden, sprich früh aus dem Bett.
Mühsam klettert sie unter der Decke hervor, macht Katzenwäsche, greift sich im Hinausgehen aus der Wohnung den mit Sardinen- und Bierdosen gefüllten Müllsack. Beinahe hätte sie vergessen, ihn in den dafür vorgesehenen Sammelbehälter im Innenhof zu stecken und wäre damit im Sauseschritt zur U-Bahn oder gar bis ins Arbeitsamt hinein, in die gute, überhitzte Stube ihrer braun gelockten Betreuerin mit den lackierten, zugespitzten Fingernägeln gelaufen. Im Prinzip auch nicht schlimm, der Geruch wäre im Warteraum nicht besonders aufgefallen, und eventuell hätte sie dadurch noch ein paar Gratisfahrscheine herausgeholt, so auf Sandlerin getrimmt.
Die U-Bahn ist um diese Zeit voll von rothalsigen, überdimensionalen Aaskäfern, die ihre vom Schlaf verklebten Fühler und Greifzangen dennoch schon ausstrecken und fettige Leberkäsesemrneln zwischen ihren Zähnen zermalmen. Iris stellt sich vor, sie wäre Noah und müsste jetzt ein Männchen und ein Weibchen aus diesem Abteil auswählen, die sie mit auf ihre Arche nehmen könnte. Sie hat da ein Prachtexemplar einer weiblichen Brillenschlange ausgemacht, die etwas mehr als der Rest des schlecht geschminkten weiblichen Büro-, Kaufhaus- und Bedienungspersonals Intelligenz durchschimmern lässt, obwohl: so streng sollte man um diese Uhrzeit wirklich nicht sein, wer schafft es bei Morgendämmerung und/oder grellem Badezimmerlicht aus dem Alibertschrank schon, ein ordentliches Make-up hinzukriegen! Aber die asymmetrisch geschnittene, gewagte Kurzhaarfrisur und der flotte, mit roten Nelken bestickte Seidenschal geben doch den Ausschlag: Die ist richtig. Eine gute Mischung aus Intellekt, Wagemut und Koketterie. Die Brille, die vielleicht in einem übereilten modisch-up-to-date Überschwang, jetzt oder nie!, oder unter Einfluss einer exzentrisch veranlagten Optikerin erstanden wurde, könnte man bei Gelegenheit ja durch ein weniger auffälliges Modell oder Kontaktlinsen ersetzen, falls gewünscht … Unter den Männern fällt die Entscheidung um einiges schwerer. Scheinen alle der Familie der Dachse und Marder anzugehören. Und einige unter ihnen haben neben Hängeohren und verkürzten, krummen Beinen einen wirklich böse anmutenden, aggressiven Ausdruck in den Augen. Nein, nein, so was ist nicht würdig zur Rettung, kommt nicht in Frage! Da, endlich, jetzt hat sie ihn gefunden: ein ruhiger, in die KRONE vertiefter Buddha, sanft lächelnd und die Augen gutmütig zusammengekniffen. Mit ein wenig Phantasie könnte man seinen Teint beinahe als elfenbeinfarben bezeichnen. Eine kleine Abmagerungskur, und schon hat man einen einigermaßen brauchbaren Mann und Vater für die zum Überleben auserkorene Menschheit – na bitte, geschafft, es gibt noch Hoffnung, so schlecht steht's also gar nicht um unsere Zukunft!
Beim Verlassen der U-Bahn kramt Iris ein Pfefferminzbonbon aus der Tasche, mal sehen, wie schnell sie heute ist. Das letzte Mal kam sie mit einem Zuckerl bloß bis zur Kreuzung Seidlgasse. Die Lutschgeschwindigkeit muss dieselbe sein, was gar nicht so einfach ist … Sie bemüht sich, nicht an die Geschwindigkeit der Zunge, sondern an die der Schritte zu denken, wirft einen Blick auf die Uhr über dem Juweliergeschäft, der ihre Vermutung bestätigt: Sie wird sowieso eine Viertelstunde zu spät kommen, das bedeutet erfahrungsgemäß, dass ihre Beraterin sie zur Strafe noch eine halbe Stunde warten lassen wird. Der Wind pfeift ihr um die Ohren, ein föhniger, aber zu dieser Morgenstunde noch kühler Frühlingswind kriecht in ihren Anorak, bläst ihn auf zu einem Schildkrötenpanzer, der bloß bremst anstatt zu beschleunigen. Und doch erreicht sie den Esteplatz mit einem Rest von Bonbon und Pfefferminzgeschmack im Mund, stolz hastet sie die Treppen im Amt hinauf, zweiter Stock, gibt etwas außer Atem ihre Kundenkarte im Anmeldungszimmer ab. Dann lässt sie sich neben der Spielzeugkiste nieder. Ist diese Kiste einfallsreich genug ausgestattet, überlegt Iris, mit Bauklötzen und Lego, obwohl doch immer wieder gesagt wird, dass das Baugewerbe stagniert? Will man die Kleinen wieder zu so unsoliden Berufen wie Baumeister und Maurer animieren?, sie sucht nach anderem Spielzeug: Ja, das ist gut, rosarot gefärbte Ponys mit Mähne, die man toupieren und flechten kann, Friseusen werden nach wie vor gebraucht, Dienstleistungen aller Art werden wieder wichtiger, wenn man den Wirtschaftsberichten glauben darf, ganz zu unterst batteriebetriebene Roboter ohne Batterien, energielos, nun ja …
Rezensionen
Helmuth Schönauer: [Rezension von: Karin Ivancsics, „Süß oder scharf“]Taugenichtsin ist eine schelmische Berufsbezeichnung für eine arbeitslose Frau, die aber der Gesellschaft nicht die Zunge zeigt sondern ein nettes Gesicht macht, wenn „Pfoti geben“ angesagt ist.
Iris hat einmal im Monat einen Termin beim Sozialamt und erledigt diese Tour routiniert, indem sie genau so viele Gefühle zulässt wie erwartet werden, nämlich keine. Als Belohnung gibt es nach dem Amt immer eine kleine Wurst und die schöne Frage, süß oder scharf. Letztlich geht es im Leben nämlich um den Senf, sonst gar nichts.
Aber dieses Mal ist alles etwas anders, Iris hat in einer Kunstaktion das Klopapier aufgebraucht und will sich noch schnell welches holen. Da sperrt sie sich aus der Wohnung aus und ist gezwungen, eine Nacht lang die Stadt mit den Augen einer Taugenichtsin zu erleben.
Der Aufsperrdienst lässt auf sich warten, und die Heldin zieht von einer Vernissage zur nächsten, von einer Künstler WG in die Fragmente eines Ateliers, sie besucht Künstlerstammtische an versoffenen Diskutierecken und bringt eine Nacht mit scharfer Analyse hinter sich, indem sie diese putzigen Rituale ungefiltert auf sich wirken lässt.
Es gibt viel Erlebnis-Trash im Land, und auch abseits der so genannten Seitenblicke-Gesellschaft ist das Seichte gerne zu Hause, auch wenn es sich intellektuell und Szene authentisch tarnt.
Alleinerziehende Lebenskünstler erzählen ungefragt von ihren Kindern und Partnern, die Träume lösen sich während der Gespräche in weinerliches Wohlgefallen auf, eine ganze Generation scheint Nacht für Nacht den Sinn des Lebens zu verlieren, während sie das Tagwerk als vergeblich besingt.
Die ausgesperrte Heldin ist plötzlich im Auge des Zeitgeistes, der sich als ein gigantisches Biedermeier-Revival herausstellt. Sie surft durch die Kleinodien des Alltags, die Devotionalien von kleinen Kochnischen, durch Rezepte und hausbackene Happenings. Jetzt ist sie wirklich eine Taugenichtsin und schreitet durch eine kitschige Epoche, wie es der biedermeierliche Taugenichts von Joseph von Eichendorff einst getan hat.
Karin Ivancsics „Senf-Novelle“ hat durchaus das Zeug, neben dem historischen Taugenichts als schulische Pflichtlektüre einer etwas verklemmten Generation einzugehen. Trashig, trendig, verraucht, nacht-rot und hektisch pingelig fließen jene Ereignisse ihrem Höhepunkt zu, der Nacht für Nacht darin besteht, das Licht auszumachen und die zusammen gekarrten Erlebnisse unters Bett zu schieben. Eine sehr süffisant-witzige Geschichte!
(Helmuth Schönauer, Rezension vom 28. November 2005)
https://lesen.tibs.at/node/886
Walter Wagner: [Rezension von: Karin Ivancsics, „Süß oder scharf“]
Dass sich die Gegenwartsliteratur (nicht nur in Österreich) kritisch mit den Veränderungen der Gesellschaft auseinander setzt, dürfte sich inzwischen selbst unter den weniger Belesenen herumgesprochen haben. Karin Ivancsics' Erzählung Süss oder scharf fällt in diese Kategorie von Texten und erinnert uns einmal mehr daran, was sich in dem einst als Insel der Seligen gepriesenen Land verändert hat. Wien als Schauplatz der Handlung erweist sich dabei als Spiegel und Paradigma eines im Umbruch befindlichen Europas. Gängige Embleme wie Fremdenfeindlichkeit, Beschäftigungslosigkeit, Digitalisierung und Ich-Inszenierung werden von der Autorin geschickt eingesetzt, um die Befindlichkeit der Generation Golf aufs Korn zu nehmen.
Im Mittelpunkt ihrer Satire steht die jugendlich-burschikose Dreißigerin Iris, die so ganz und gar nicht zu ihren erfolgreichen, oberflächlichen Freunden passen will: „Keine Ersparnisse, kein Auto, keinen Job, keinen Freund, keine Kinder, alles, was ich mein eigen nennen darf, ist eine Mietwohnung, aus der sie mich nicht so schnell hinauswerfen können.“ Es ist der Ironie der Ereignisse zuzuschreiben, dass sie sich eines Tages vor der verschlossenen Wohnungstür befindet, weil sie sich ausgesperrt hat. Da der Schlüsseldienst auf sich warten lässt, ist sie gezwungen, sich einen Tag und eine Nacht als Obdachlose um die Ohren zu schlagen.
Auf Irrwegen durch die Wiener Lokal- und Partyszene landet sie schließlich bei der Schauspielerin Marianne, die sie bei sich aufnimmt. Hinter der rätselhaften Person verbirgt sich eine Frau mit Vergangenheit, von der sich Iris fasziniert zeigt. So zeichnet sich am Ende eines an Wechselfällen und Einsichten reichen Tages schließlich die Möglichkeit einer tiefen Freundschaft ab. Süss oder scharf figuriert als moderne Version von Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts, vermag indessen trotz der heiteren Inszenierung nicht den ernsten Grundton zu verbergen. Das romantische Ideal freien, ungezwungenen Wanderlebens mutiert in Ivancsics' Prosa zu einem gesellschaftlichen Versteckspiel, in dem die Antiheldin bald unter Rechtfertigungsdruck gerät. Iris gelingt es nämlich nicht, den tüchtigen, beziehungswilligen Yuppies aus dem Bekanntenkreis ihren völligen Mangel an Ambitionen plausibel zu machen. Statt am kollektiven Wettlauf um Statussymbole und Liebe teilzunehmen, begnügt sie sich damit, in den Tag hineinzuträumen, der trotz knapper Kasse Behaglichkeit und Zufriedenheit verspricht.
Wo die Ideale und Werte des Kapitalismus bis zum Überdruss eingeschärft worden sind und die Opfer, die es zu bringen gilt, immer größer werden, macht sich freilich Unbehagen breit. Begriffe wie „downshifting“ oder „neue Bescheidenheit“ bezeichnen (gewiss nicht ohne einen Anflug von Zynismus) jenen Zustand, in dem Iris die passende Lebensform gefunden hat. Das offene Ende der Geschichte unterstreicht dabei nicht das Scheitern der Protagonistin, sondern vielmehr den Umstand, dass auch die Literatur keine Patentrezepte zur Daseinsbewältigung zu bieten hat. Dies gilt auch für Karin Ivancsics' jüngste Buchpublikation, der indessen das Verdienst zukommt, scharfsinnig und amüsant auf den Zeitgeist zu reagieren. Man braucht übrigens kein Sozialschmarotzer zu sein, um sich in Süss oder scharf wieder zu erkennen.
(Walter Wagner, Rezension im Buchmagazin des Literaturhaus Wien, 1. März 2006)
http://www.literaturhaus.at/?id=1579
Weitere Bücher des Autor*s im Verlag:
Anna hat zwei Tage
Die Gastgeberin
Muss das schön sein im Toten Meer Toter Mann zu spielen
Restplatzbörse